Thomas Melle: Das leichte Leben

Wie ein Spiegel, der in Superzeitlupe zerbricht, löst sich in Das leichte Leben von Thomas Melle das Leben einer Familie in seine Einzelteile auf und führt allen Beteiligten vor Augen, was sie sich in ihrem leichten Leben zuvor alle vorgemacht haben.

Thomas Melle: Das leichte Leben

In einem unterkühlten Metallicsilber kommt Das Leichte Leben von Thomas Melle daher. Jedes Wort auf dem Cover hat seinen eigenen Block, mit dem es herunterzufallen scheint. Ins Nichts? Vielleicht auch wie Steine, die von Herzen fallen? Was sich sicher sagen lässt: Das Cover macht mit seiner Kühle einen Kontrast zum Inhalt auf, denn dort läuft so ziemlich alles heiß – um dann ins Nichts zu fallen.

Doch fangen wir am Anfang an. Katrin und Jan Drescher sind seit vielen Jahren verheiratet, leben mit zwei Kindern in Berlin. Einst waren sie das große Vorzeigepaar. Sie die literarische Sensation, auch ein bisschen skandalös, er aufstrebender Medientyp, bekannt in der Szene. Sie genossen es, auf der Welle der allgemeinen Bewunderung zu schwimmen, alles richtig zu machen, einen Schritt auf den nächsten folgen zu lassen. Immer richtig, immer tolles Feedback. Das leichte Leben eben.

Der Roman handelt vom Verlust der Leichtigkeit. In der Gegenwartshandlung ist sie schon lange weg. Beide schmeißen sich in sinnlose Affären, probieren sich lustlos aus – rein aus dem Gefühl heraus, das alte, leichte Leben könnte sich aus neuen Körpern wieder zurückholen lassen. Als Paar haben sie sich schon lange verloren, doch auch sich selbst verlieren sie durch das kopflose Wiederbeleben lange vergangener Zeiten immer weiter.

Er verzog das Gesicht, es kamen ihm Bilder von besseren Zeiten, als sie das Paar der Stunde der Stadt, fast des Landes gewesen waren, unser leichtes Leben, so hatten sie es genannt, so hatten sie es auch geplant, nie sollte es schwer und spießig werden, nie, und was war jetzt übrig davon außer bleierner Nacht und sinnloser Entleerung? Und würde es jemals wiederkommen, das leichte Leben, der Traum von damals?

Das leichte Leben erzählt kapitelweise aus der personalen Perspektive einer Person der Familie. Katrin steht dabei gefühlt am meisten im Vordergrund, gleich gefolgt von Jan. Doch es gibt noch mehr Personen, die die Welt des Romans weiter machen: In erster Linie Tochter Lale, doch auch ihr ungewöhnlich attraktiver Fast-aber-dann-doch-nicht-Freund Keanu, der kurzzeitig bei den Dreschers wohnt. Und in den sich Katrin gleich bei der ersten Begegnung verguckt, ein Begehren entwickelt, das sie nur schwer beherrschen kann.

Damit sind wir auch im Kern von Das leichte Leben angekommen: dem Begehren, und zwar in seiner ganzen Körperlichkeit. Der Roman schildert ein Ensemble, das sein Heil im Sex sucht. Ist das bei der pubertierenden Lale noch vollkommen gewöhnlich und in ihrem speziellen Fall auch harmlos, sieht das beim Rest ganz anders aus. 

Gerade bei Katrin und Jan wird Sex zu einem Instrument, um verdrängte Traumata im Zaum zu halten. Passenderweise wirken die Sexszenen im Roman meist wie Ringkämpfe, Katrin beschreibt den Sex mit Jan einmal auch genau so. Der Körper ist hier ein bloßes Instrument, die Leiden des Geistes zu lindern. 

Melle schreibt damit an einem großen Thema der Gegenwart, das er in den kleinen Nebensträngen noch weiter einkreist. Es ist der Kampf um Individualität in einer Gesellschaft, in der Individualität eine Norm und keine Besonderheit mehr ist, gleichzeitig aber über den unendlichen Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung ein riesiger sozialer Druck zur Anpassung an Moden und Trends schwebt. Sex ist ein Vehikel, das gerade in der Großstadt und vielleicht nochmal mehr in Berlin Teil dieses Teufelskreises geworden ist. Nach Gefühlen wird hier wenig gefragt – und Steine fallen hier mit Sicherheit niemandem vom Herzen.

Das leichte Leben ist ein Roman, der mit seiner genauen Beobachtung und schonungslosen Darstellung schockiert und so beim Lesen fesselt. Die verschiedenen Perspektiven schaffen das Bild einer kleinen Welt, die von kaputten Personen bevölkert wird und in dem die Jugendlichen immer noch am besten wegkommen. Ein provokantes Zeitdokument, das nachwirkt und sich in die aktuellen Diskurse einfügt.

Thomas Melle: Das leichte Leben | Kiepenheuer & Witsch | 352 Seiten | 24 Euro | erschienen im September 2022

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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