Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Die Suche nach einem verschollenen Buch, einem sagenumwobenen Schriftsteller, und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Literatur – all das ist der Debütroman von Mohamed Mbougar Sarr, Die geheimste Erinnerung der Menschen. Und darüber hinaus noch eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Paris war wohl schon immer eine Stadt der Kunst – oder vielmehr der Künstler*innen. Hier treffen sich ähnliche Geister, um sich aneinander zu reiben, sich gegenseitig anzuspornen. Und oft wohl auch einfach nur, um miteinander zu trinken und zu feiern, aber das gehört ja auch dazu. Hier tummelt sich auch Diégane Latyr Faye. Der nicht mehr ganz junge Schriftsteller aus dem Senegal hat seinen Debütroman bereits ziemlich erfolglos in Frankreich veröffentlicht und müsste eigentlich seine Doktorarbeit schreiben. Doch dann taucht ein Mysterium vor ihm auf und krempelt sein Leben komplett um.

Das Mysterium ist Das Labyrinth des Unmenschlichen, das lange vergessene Kultbuch des sagenumwobenen Schriftstellers T. C. Elimane. Dieser stammt wie Diégane aus dem Senegal, ging nach Paris – und dort verliert sich die Spur. Viel Identifikationspotenzial für den stagnierenden Schriftsteller. Nun gibt es kein Halten mehr – er muss das Rätsel des Buchs lösen, muss Elimane finden. Koste es, was es wolle.

T. C. Elimane ermöglichte es den afrikanischen Autoren meiner Generation, die man bald wohl nicht mehr als jung bezeichnen kann, sich in feierlichen und blutigen literarischen Wettkämpfen gegenseitig zu massakrieren. Sein Buch hatte etwas von einer Kathedrale und einer Arena; wir traten ein wie in das Grabmal eines Gottes, und am Ende knieten wir in unserem Blut, das als Trankopfer für das Meisterwerk vergossen wurde.

Als Ich-Erzähler von Die Geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr führt Diégane in einer höchst emotionalen und bildreichen Sprache durch die Geschichte. Doch seine Stimme ist lange nicht die einzige. Denn seine Suche nach Elimane gräbt sich Schicht um Schicht tiefer in die Vergangenheit, die immer wieder durch überlieferte Texte und von anderen Personen direkt geschildert wird. Das kann durchaus verwirrend sein, da der Roman leichtfüßig zwischen den Zeitebenen und Erzähler*innen springt. Es braucht also durchaus Aufmerksamkeit, um hier dranzubleiben.

Diese wird aber durchweg belohnt. Nicht nur sprüht der Roman vor Sprachgewalt und Einfallsreichtum. Er erzeugt auch durch die immer tiefer gehende Suche in eine dunkle Vergangenheit den Sog eines Krimis – auch wenn sich hier doch die eine oder andere Länge zu viel einschleichen mag. Überlagert wird der abenteuerliche Plot dabei von einer alle Zeitebenen und Nebenschauplätze durchziehenden Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und dessen aktuellem Erbe.

Die geheimste Erinnerung der Menschen handelt von der Faszination vieler Senegalesen für Frankreich – das vermeintliche kulturelle »Mutterland« –, die im frühen 20. Jahrhundert im Einsatz von tausenden Senegalesen in den Weltkriegen gipfelt. Von Paris als Exilmetropole afrikanischer Schriftsteller*innen, die jedoch bei aller freundlichen Aufnahme und allen Freiheiten, die sie dort genießen, doch meist als »Exoten« betrachtet und abgewertet werden. Auch ihre Werke werden nur in Bezug auf ihre afrikanische Herkunft hin gelesen, das Literarische wird ihnen aberkannt. Und es handelt auch vom immer noch schreienden Gegensatz zwischen reichem Norden und armem Süden – wobei hier immer klar ist, dass es nur um materiellen Reichtum geht, nicht etwa um kulturellen oder menschlichen.

Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr ist ein beeindruckender Roman, der eine packende Handlung mit einem avancierten Stil verbindet und dabei Kritik transportiert, ohne sie den Leser*innen je platt auf die Nase zu binden. Ein Erlebnis, das einen starken Eindruck hinterlässt und Lust auf mehr macht. Vor allem Lust auf Literatur – denn gerade die immer tiefer grabende literarische Spurensuche ist eine Liebeserklärung an die Literatur selbst.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen | Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller | Hanser | 448 Seiten | 27 Euro | erschienen im November 2022

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Holger Fock

    Lieber Stefan,
    wir freuen uns natürlich über jede positive Rezension zu dem von uns übersetzten Roman von Mohamed Mbougar Sarr. Noch mehr freuen würden wir uns allerdings, wenn Sie – zumindest in de bibliographischen Angaben – auch diejenigen nennen würden, die für „Sprachgewalt und Einfallsreichtum“ in der deutschen Fassung des Romans verantwortlich sind: seine Übersetzer.
    Da Sie auch noch 5 Zeilen zitieren, wären Sie, urheberrechtlich betrachtet, auch dazu verpflichtet, denn alle übersetzten Texte haben immer zwei Urheber: die des Originals udn die der Übersetzung.
    Wir hoffen, Sie können das nachvollziehen, und nennen in Ihrer nächsten Rezension eines übersetzten Buchs auch den/die Übersetzer/in.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Ihr Holger Fock.

    • Besten Dank für den Hinweis, lieber Holger, ich habe den Hinweis hinzugefügt und einen Platzhalter in unserem Bibliographie-Template hinzugefügt, damit wir auch in Zukunft an die Übersetzer*innen denken.
      Liebe Grüße
      Stefan

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