Es geht weiter mit der Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte. Der zweite vorgestellte Text ist Die Unsichtbaren von Kinga Tóth.
Scrollt man durch die Timelines, egal wo, geht es um Ernährung, um Sport, Selbstorganisation, Esoterik – und damit immer um Wege, das eigene Leben zu optimieren. Sich noch besser zu fühlen im eigenen Körper, ganz bei sich zu sein, die Welt auszublenden oder sich in ihr selbstbewusst zu platzieren, sich Raum zu nehmen, als Person ganz präsent zu sein. Was dem allen zugrunde liegt, ist neben anderen Aspekten vor allem die Norm, gesund zu sein. Nur wer gesund ist, wird sich noch weiter optimieren, noch am letzten kleinen Schräubchen drehen wollen.
Es wäre zu viel gesagt, dass Krankheiten in unserer Gesellschaft komplett unsichtbar gemacht werden, aber sie treten schon sehr in den Hintergrund. Das Gespräch über Krankheit oder auch nur allgemein Schlechtes wird eher abgelehnt und in die hintersten Ecken verschoben. »Hauptsache gesund!«, heißt es symptomatisch immer wieder, und das könnte auch ein Motto unserer Gesellschaft sein. Ein Motto, bei dem chronisch und unheilbar Kranke allerdings nicht teilhaben dürfen.
In ihrem Text Die Unsichtbaren legt Kinga Tóth den Fokus ganz gezielt auf diese von der Mehrheitsgesellschaft Ausgeschlossenen. In einem lyrischen, in seiner radikalen Subjektivität einnehmenden Ton erzählt der Text davon, wie es ist, permanent der Krankheit, dem Ungenügen des eigenen Körpers ausgeliefert und damit ausgeschlossen zu sein. Ausgeschlossen und ausgeliefert, denn wer krank ist, ist Teil anderer Systeme: des Gesundheitssystems, von Krankenhäusern, Stationen und Institutionen.
Hier könnt ihr den eindrucksvollen Text von Kinga Tóth nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.
Man kennt dich bisher vor allem als Lyrikerin und Performancekünstlerin – wie war es für dich, diesen Text zu verfassen?
Ich schreibe schon lange sowohl Prosa- als auch Dramatexte und habe immer mit verschiedenen Formen (Klang, Visualität, Performativität und Lyrik-Drama-Prosa) experimentiert, genau wie die Storytellerinnen, die Oralhistorikerinnen (oder wie wir sie auch nennen), die Sängerinnen, die uns vorantreiben möchten, die eine Geschichte erzählen möchten. Die Form entsteht mit der Geschichte ganz organisch, und als Künstlerin/Schriftstellerin ist es meine Aufgabe, diesen organischen Prozess zuzulassen (was gar nicht so einfach ist!) und auch zu spüren, ob und wo man mit den Elementen und Genres komponieren darf. Das Thema stand bereits fest, und es war mir ein Herzenswunsch, andere Personen zu erreichen, zu berühren, damit diese empfindliche Geschichte oder Reise wahr bleiben, zerbrechlich bleiben kann und dem anderen Menschen auch etwas bedeutet. Wie bei einer Performance ist man auf der Bühne nackt, so ehrlich wie möglich, um sich mit dem anderen Menschen in Verbindung zu setzen. Und es ist das schönste Erlebnis, wenn das passiert, wenn wir einander für ein paar Augenblicke verstehen.
Dein Beitrag besteht aus mehreren Abschnitten, die ein großes Ganzes ergeben. Wieso hast du dich für diese Form entschieden?
Ich wollte einen Gedankengang »lauter machen«, so wie man z.B. Walkman hört (ich habe gerade für den Text meinen Walkman und meine alte Kassette herausgesucht, um die Erinnerungen und die Bilder wieder hervorzurufen), und so wie unser Gehirn hin und her wandert, zwischen Assoziationen, Mosaiken, Trips – dieses Karussell wollte ich wahrheitsgetreu abbilden, genau wie es in der Wirklichkeit passiert. Es ist wie im Prater zu sein, aber zugleich kann man den Gang wechseln (wie die Viren, Medikamente, das Andere in uns): Wir fahren manchmal Autoscooter und rammen die anderen und lachen laut, oder fahren auf dem Kettenkarussell hoch und sehen alles aus Dronenperspektive, und gleichzeitig gibt es die Geisterbahn, wo alles gefährlich sein kann, aber trotzdem weitergeht. Und natürlich geht es auch darum, wie wir mit anderen verbunden sind – durch die Erinnerungen, Assoziationen, aber auch durch Klänge, Gerüche, Geschmäcke oder Medikamente. Diese Trigger setzen uns auf das Karussell, wo wir mit unseren Fahrkameradinnen neue Geschichten erleben, psychisch oder physisch – beides ist Wirklichkeit.
Das Leben mit einer Krankheit steht im Mittelpunkt deines Textes – warum beschäftigt dich dieses Thema im Besonderen?
Lange habe ich darüber geschwiegen, dass ich persönlich auch betroffen bin, einfach, weil ich dachte, es trägt zum Text, zur Verbindung mit der Welt nichts bei. Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich mit Organisationen für chronische Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten, aber ich habe schon viel früher angefangen, über dieses Thema zu schreiben. Viele, die auch betroffen sind, sagen, dass diese Geschichten fast nicht erzählbar sind: weil sie, weil wir vollkommen gesund aussehen. Unsere Prozesse sind unsichtbar, laufen unter der Haut ab, und falls nicht, lernt man sie früh zu verbergen. Wie kann man diese Prozesse darstellen, die so viele betreffen, allein in Europa mehr als 24 Millionen Menschen? Und natürlich geht es auch um unsere Auffassungen von Krankheit, und wie falsch sie oft sind. Was bedeutet Krankheit eigentlich, besonders bei Autoimmungeschichten, wo man eigentlich mit diesen Eigenheiten geboren wurde? Wer bestimmt, wo die Normalität anfängt? Heutzutage, wo unser Körper, unsere innere Haut mit Plastik bedeckt ist (das ist schon bewiesen!), wo unsere Gewässer uns mit Hormonen überfüllen, wo die Pflanzen nukleare Flüssigkeiten aus dem Boden heraussaugen und wir sie essen – da betrifft uns diese Transformation alle, kodiert uns um und bietet neue Eigenheiten an. Krankheit ist eine Transformation und Mutation, die uns nicht teilt, sondern verbindet – Covid 19 kam und unser Alltag wurde für alle zur Normalität. Diese Texte versuchen, diese Prozesse einfach, klar und transparent zu machen, statt Angst Akzeptanz, statt Zerteilung Verbindung, statt Krankheit Entwicklung.
Kranke Kinder und Jugendliche sind in deinem Beitrag die Unsichtbaren – was macht sie für dich dazu?
Die Figuren dieser Erzählungen sind forever young, vielleicht sind sie scheinbar Kinder, aber sie wechseln ihren Körper, ihre Funktionen und Fähigkeiten sowie auch ihr Alter. Das ist bei diesen Zuständen oft so; bei diesem Zusammenleben (ich werde das Wort Krankheit nicht benutzen!), bei dieser Transformation gestaltet sich das Altern auch ganz unterschiedlich. Einige sind sehr alt wegen ihrer Erfahrungen und wegen der speziellen Eigenheiten ihrer Organe. Diesen Blick, den wir (vielleicht wir alle) haben, diese Neugier, als ob man jede Erscheinung zum ersten Mal sehen würde, das haben wir gemeinsam und das ist das Kind im Innern, das nicht älter wird. Und warum sie unsichtbar sind: Weil sie in Institutionen beherbergt werden, ganz oft von ihren Geliebten getrennt, in Kabel eingewickelt, mit Schläuchen gefüllt, fern von Blicken, und natürlich lernen sie auch, sich zu verstecken – und dann leben sie in der Außenwelt in Rollkragenpullovern und verbergen ihre Haut, ihre wahre Persönlichkeit.
Wir können aber auch andere Gesichtspunkte anwenden: die Abhängigkeit zum Beispiel. Ganz oft ist man von Medikamenten, Pflege, Personen, Objekten, Ärzten usw. abhängig, wenn man mit dieser Transformation lebt – auch dadurch wird man jung und ein bisschen wehrlos. Zwischen diesen Perspektiven kann man wechseln, auch bei diesen Erzählungen.
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
Alles – Worte haben noch immer Kraft, sie können zaubern, heilen, transformieren. Nur, weil ich ein Codesystem gewechselt habe (auf Deutsch schreibe und auch die Sprache der Kunst benutze), erreiche ich viel mehr Menschen und kann helfen und mitfühlen. Gesellschaftspolitik beginnt im Mikrokosmos, wo ich dich erreiche und einen Raum schaffe, in dem diese Geschichten sichtbar werden können – das ändert etwas in dir, und du gibst es dann weiter. Ich glaube an diese Kraft und daran, dass die Wörter leben – wie das Teresa von Avila so schön schreibt. Je größer der Kanal ist, desto mehr Leute können sich öffnen. Die Gesellschaft besteht aus Menschen, es ist gar nicht so kompliziert – wir neigen bloß dazu, das zu vergessen und mit Worten zu maskieren. Demaskieren können wir aber auch, und dann sind wir endlich nackt, pures Fleisch und Knochen und Gefühle – und das verbindet uns noch immer. 😊
Vielen Dank für deine Antworten.
Kinga Tóth, geboren 1983 in Ungarn, ist Sprachwissenschaftlerin, Visuell-Klang-Poetin, Illustratorin und Kulturmanagerin. Tóth schreibt auf Deutsch, Ungarisch und Englisch und stellt ihre Texte in Installationen und Performances dar. In Ungarn engagiert sie sich für Gleichgerechtigkeit und Frauenrepräsentation im Literaturbetrieb. Für ihre intermediale und internationale Arbeit bekam sie 2020 den Hugo-Ball-Förderpreis und den Bernard Heidsieck-Prix. 2021 war sie Gastkünstlerin in der Villa Waldberta. Ihre Text-Foto-Installationen sind in Tallin, ihre graphischen Gedichte im Centre Pompidou und ihre intermediale Installationsarbeit in der MODEM Galerie (Debrecen/Ungarn) ausgestellt. Kinga Tóth ist 2023 DAAD-Stipendiatin in Berlin. Zuletzt erschienen: Maislieder (2019, Thanhäuser), PARTY (2020, parasitenpresse), OFFSPRING (2020, YAMA), TRANSIT (2021, SUKULTUR), Mondgesichter (2022, Matthes & Seitz).
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann und Volha Hapeyeva. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.