Ein Kind zu bekommen ist nichts für schwache Nerven: In einnehmender Intimität schreibt Julia Friese in ihrem Debütroman MTTR über Schwangerschaft und eine Gesellschaft, die Mütter nur zu gern abstempelt. Sprachmächtig und fesselnd.
Fangen wir mal ganz weit außen an. Ein Kind zu bekommen, ist für Eltern eine ziemlich große Veränderung ihres Lebens bis dahin. Sie übernehmen die Verantwortung für ein neues, komplett hilfloses Wesen und müssen diesem dementsprechend viel Platz in ihrem Leben einräumen. Gehen wir einen Schritt weiter nach innen, ist da die Mutter und ihr Körper, die Veränderungen und auch Untersuchungen während der Schwangerschaft und danach ist das direkt körperliche Verhältnis zum Kind, die Frage des Stillens, der Fürsorge. Und da ist auch der Partner oder die Partnerin, eine weitere Person, die einbezogen werden kann oder muss.
Doch da ist auch noch ein weiteres Außen. Als wäre es alles nicht schon kompliziert genug, das Leben im Innern des Selbst und der Beziehung neu zu ordnen, kommt auch noch der Blick von außen hinzu. Kommen Eltern hinzu, die Großeltern werden und damit ganz unterschiedlich umgehen. Sind ihre Erwartungen und Wünsche zumindest noch relativ nah, sind es die verstohlenen Blicke, ungefragten Meinungen und Ratschläge anderer Personen aber nicht. Es scheint, als würde sich die ganze Welt den Mund über das eigene Verhalten zerreißen, denn Kinder gehen doch alle was an.
In diesem Spannungsfeld ist MTTR von Julia Friese angesiedelt. Der schon überaus reif wirkende Debütroman erzählt aus Sicht von Teresa die Zeit vom diffusen Kinderwunsch über den positiven Schwangerschaftstest und die Geburt bis in die ersten Lebensmonate des Kindes hinein. Strukturiert wird alles von Teresas ganz eigenem Blick auf die Welt und der Sprache, die sie dafür findet. Für mich war es gerade diese Sprache, die MTTR so besonders macht. Denn der Roman wird in allen Lesenden nachhallen, egal in welcher Rolle sie sich in Bezug auf das Thema befinden.
Während Urin vom Stäbchen auf meine Oberschenkel tropft und mein Blick an den Fersen des Kontrollstreifens haftet, wie er langsam durch das kleine Fenster läuft, feucht, rosa, aber das zweite Fenster immer weiß blieb. Und ich war erleichtert. Jedes Mal erleichtert und am Boden zerstört. Ich verstand es nicht. Verstand nicht mal, was ich hier machte. Was war das? Etwas, über das ich nicht redete, das mit mir ausgeführt wurde. Ein Modus, der mit mir ablief. Warum, weiß ich nicht.
In Teresas Welt gibt es nur wenige Konstanten, wenige Sicherheiten, die einfach so gelten. Es ist so, als sei unsere Lebenswelt komplett in ihr gespiegelt, so sehr ist sie zerrissen in den unterschiedlichsten Gedanken. Nur eins darf nicht sein, und das ist Fremdbestimmung. Doch darauf folgt natürlich gleich eine andere Frage: In einer Gesellschaft wie der unseren, wo alles so stark vernetzt, jeder Eindruck immer schon dreimal vermittelt ist durch verschiedenste Medien und Träger, wo beginnt da eigentlich das Eigene, und wo das Fremde? Um es kurz zu sagen: Es ist kompliziert.
Genauso kompliziert wie Teresas Gedankenwelt ist es auch, den Roman zu beschreiben. Natürlich gibt es die Handlung, gibt es den Weg vom Schwangerschaftstest in die Schwangerschaft, vom Geburtsvorbereitungskurs ins Krankenhaus und von dort ins Wochenbett. Das alles lässt sich gut beschreiben, gibt aber kaum wieder, was den Roman ausmacht. Es sind vielmehr die scharfen Beobachtungen, die sich praktisch nahtlos aneinanderreihen und mich begeistert haben.
Die Eltern, die viel zu sehr mit sich beschäftigt sind, als dass sie ihren Kindern, die sie ja schon eigentlich lieben, auch nur einmal wirklich zuhören und ihre Bedürfnisse wahrnehmen könnten. Die anderen Paare, die dem Geburtsvorgang durch eine manische Beschäftigung eine transzendente Bedeutung angedichtet haben. Die Pfleger*innen und Ärzt*innen, die ihre Seelen anscheinend dem Gesundheits- und Krankenhaussystem geopfert haben und ihre Patient*innen nur noch als Verwaltungsakt betrachten.
Natürlich gibt es sehr viel Fatalismus in MTTR, viel Überzeichnung und unzählige Katastrophen, die rational gesehen bestimmt gar nicht so schlimm sind. Doch die Intimität der Beobachtung lässt uns genau nachfühlen, was in Teresa vorgeht, für die alles genauso schlimm ist, wie sie es beschreibt. Der Roman schildert die Sicht einer Frau in einer Gesellschaft, die gerade Müttern gegenüber nur die strengsten Maßstäbe ansetzt und sie damit in ein Korsett verschiedenster Zwänge einschließt. Gerade für unsicherere Personen kann dies fatal sein. Der Roman ist ein beeindruckendes Plädoyer gegen diese Form der Unterdrückung und gleichzeitig das Porträt einer Generation, für die der Verlust der eigenen Freiheit durch die Elternschaft ein viel größeres Zugeständnis ist als wohl jemals zuvor für eine Generation.
Julia Friese: MTTR | Wallstein | 421 Seiten | 25 Euro | Erschienen im August 2022