[wortmeldungen 2023] Sasha Marianna Salzmann: Der große Hunger und das lange Schweigen

So langsam steigt die Spannung, denn heute stellen wir euch den letzten Text der Shortlist des diesjährigen WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte vor: Der große Hunger und das lange Schweigen von Sasha Marianna Salzmann.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur ein völkerrechtswidriger Angriff auf einen souveränen Staat. Er ist auch Ausdruck einer Ideologie, eines kulturellen Imperialismus, der schon die Sowjetunion bestimmt hat und das Russische als Leitkultur setzt. In diesem Licht erscheint der Angriff als der Versuch, »abtrünnige Regionen zurück ins Reich zu holen, an ihren eigentlichen Bestimmungsort«. Damit ist die Ukraine nicht allein, und es ist auch nicht der erste russische Angriff auf die ukrainische Bevölkerung und Identität.

Ein früherer Angriff aus der Sowjetzeit wurde aus dem kollektiven Gedächtnis fast gelöscht. Genau so, wie die letzten Zeug*innen des Holocaust nach und nach versterben, steht es auch um die Zeug*innen des Holodomor. In den 1930er Jahren versuchte die Sowjetunion, die Ukrainer*innen auszuhungern, um die sowjetische Herrschaft dort zu festigen. Drei bis sieben Millionen Menschen starben, doch im heutigen kollektiven Gedächtnis ist der Völkermord kaum präsent und auch international ist er noch nicht durchgängig anerkannt.

In ihrem Essay Der Hunger und das lange Schweigen thematisiert Sasha Marianna Salzmann diese klaffende Lücke. Der Text berichtet von Gesprächen mit Menschen, die den Holodomor selbst erlebt haben oder ihn aus der Familie kennen. Viel mehr jedoch von der Abwesenheit oder dem Unwissen darüber, das sich bis heute durch die ukrainische Geschichte zieht und eine explizite Auseinandersetzung in Geschichtsschreibung und kollektivem Gedächtnis verhindert hat. Ein Sieg Stalins, der sich bis heute durchzieht, sagt Salzmann selbst.

Hier könnt ihr den aufwühlenden Essay von Sasha Marianna Salzmann nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir Sasha Marianna Salzmann ein paar Fragen gestellt.


Sasha Marianna Salzmann
© Heike Steinweg

Du beschreibst in deinem Essay, dass du zwischen verschiedenen Nationalitäten aufgewachsen bist – wie gehst du heute damit um?

In sowjetischen Geburtsurkunden gibt es, neben »Staatsangehörigkeit«, die Rubrik »Nationalität«, und dort ist in meinem Fall vermerkt: jüdisch. Das war ziemlich unmissverständlich. Und weil meine Familie eine klare Vorstellung davon hatte, was das bedeutet, hatte ich sie auch. Ich verband damit das Jiddische, das meine Urgroßeltern miteinander sprachen, die Musik, die sie auflegten, die Witze, die sie erzählten, während sie dieses Essen servierten, das es nur bei ihnen gab. Das alles war anders als die russische Kultur um uns herum. Hinzu kommt mein Aussehen, auf das ich bis zu unserer Ausreise nach Deutschland (und bei meinen Besuchen nach der Emigration) von Menschen aus der russischen Dominanzkultur – scherzhaft oder weniger scherzhaft – angesprochen wurde: meine Haare, meine Nase etc. Meine Kindheitsfreundinnen hatten allerdings schwarze Locken, dunkle Augen, und bei ihnen gab es auch anderes Essen, als ich es aus russischen Familien kannte. Ich habe erst später verstanden, dass sie Georgierinnen und Armenierinnen waren und dass ich in einem Land aufgewachsen bin, das multiethnisch ist, oder in der Terminologie der russischer Bürokratie: multinational. Ich denke, ich bin also eher »unter« verschiedenen Nationalitäten aufgewachsen als »zwischen« ihnen. Ich glaube auch nicht, dass Menschen »zwischen« den Kulturen stehen, sitzen oder verlorengehen können. Ich glaube, dass die meisten von uns unterschiedliche Aspekte verschiedener Kulturen in sich tragen. Im besten Fall ist Kultur immer amorph. 

Wie kann uns die literarische Beschäftigung mit dem Holodomor Aufschluss über die aktuellen Ereignisse geben?

Was mich nicht loslässt: Meine Urgroßeltern kommen aus Odessa, meine Großeltern aus Czernowitz – und keine*r von ihnen hat je etwas von einem Genozid erwähnt, der sich in dem Land ereignet hat, in dem sie gelebt haben. Es ist interessant für mich, wie Familien ihre eigenen Narrative konstruieren. Meine Familie war stolz darauf, die Nazis besiegt zu haben. Das prägte unser Selbstverständnis. Meine Urgroßeltern, beide Ärzt*innen, haben die Scharfschützen von Stalingrad zusammengeflickt. Dafür gibt es Belege, ich bezweifle das gar nicht. Was mir aber relativ spät auffiel, war, was nicht erzählt wurde. Es kann doch nicht sein, dass alle meine Vorfahren der Roten Armee beim Siegen geholfen haben und niemand etwas mit dem Gulag zu tun hatte, zum Beispiel. Weder als Insasse noch als Folterer. Aber das wurde mir erst klar, als ich meine Urgroßeltern und Großeltern nicht mehr fragen konnte, und meine Mutter weiß es nicht, sie hat selbst nie gefragt. Insofern funktioniert Familiengeschichtsschreibung wie Geschichtsschreibung im Großen: Man schreibt die Erfolge auf, die Siege. Oder zumindest schreiben die Siegenden über die Besiegten. Und wenn man der Verlierer der Geschichte ist, dreht man die Geschichte so lange, bis die Verhältnisse Kopf stehen. 
Weder in den russischen noch in den deutschen Schulbüchern habe ich etwas zum Holodomor gelesen. Als ich für meinen Roman recherchierte, stieß ich mehr oder weniger zufällig auf den Hungergenozid an der ukrainischen Bevölkerung. Ich saß mit Frauen aus der Ukraine zusammen und redete mit ihnen über ihr Leben, ihre Familien, ihre Vorfahren. Und immer wieder flackerte dieser Halbsatz auf: »Der Hunger damals …« Irgendwann wurde mir klar: Dass wir so lange nichts oder nur so wenig über die systematische Zerstörung der ukrainischen Kultur durch Hunger und Massenerschießungen wussten, ist Stalins Sieg über uns. Je mehr wir über die Geschichte der Ukraine lernen, desto mehr verstehen wir nicht nur vom Krieg dort, sondern auch von uns und unserer Rolle darin. 

Wie hat sich dein Verhältnis zur Ukraine durch den Krieg gewandelt?

Alles hat sich verändert, als ich anfing, für meinen Roman zu recherchieren. Ich habe Frauen aus der Ukraine getroffen, viele von ihnen aus der Ostukraine, um etwas über die Welt zu erfahren, aus der sie kamen. Keine dieser Frauen hat sich stolz auf die Brust geschlagen und gesagt: »Ich bin Ukrainerin!«. Sie haben mir von ihrem Alltag, zuerst in der Sowjetunion, dann im Donbass erzählt. So begann ich, diese Region kennenzulernen, und fühlte mich den Menschen verbunden, die mir vom Leben dort erzählten. Nach der Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine im letzten Jahr wurde mir klar, dass die Geschichten der Frauen, die ich für einen Roman interviewt hatte, der bereits im Herbst 2021 erschienen war, weitergingen. Plötzlich kannte ich Leute, die unter Beschuss waren. Freundinnen von mir saßen in Schutzkellern. Mir war und ist es aber wichtig, die Ukraine in dieser katastrophalen Zeit nicht nur als Opfer eines Angriffskrieges zu betrachten, sondern als ein unabhängiges Land mit einer reichen, beeindruckenden Kunst und Kultur. Also organisierte ich Veranstaltungen, bei denen die Künstler*innen entweder selbst sprachen oder, wenn sie nicht vor Ort sein konnten, über ihre Texte anwesend waren. Ich unterrichtete an der Kunsthochschule für Medien in Köln ein Seminar zu ukrainischer Kunst, in dem wir uns mit den Arbeiten zum Beispiel von Yevgenija Belorusets, Marija Prymatschenko, Lyuba Yakimchuk und Fjödr Tetyanich beschäftigten. Ich glaube, wir wachsen da alle gemeinsam hinein. Wir üben unseren Blick. Diese Beschäftigung ist ein permanentes Blicktraining, und das wiederum bindet uns an die Menschen jenseits aller Zuschreibungen von Nationalität. 

Wie ging es weiter mit deinen Recherchen? Inwiefern waren sie auch Grundlage für die Arbeit an deinem Roman »Im Menschen muss alles herrlich sein«?

Als ich mit der Arbeit am Roman begann, war ich wie ein Schwamm, der sich vollgesogen hatte mit Geschichten über eine Zeit, die ich wenig kannte, aber die mich und meine Familie so stark geprägt hatte. Ich nutzte die Interviews als Guideline durch die Leben meiner Romanfiguren, aber ich portraitiere keine der Frauen, mit denen ich so viele Stunden zusammengesessen habe. Durch die Gespräche fing ich an, zu verstehen, was ich alles nicht gesehen hatte, was ich mir gar nicht hätte ausdenken können, weil es für mich nicht denkbar war. Plötzlich stellten sich mir eine Unzahl an Fragen, wie das Leben in der Sowjetunion ausgesehen haben könnte und was das für die Protagonistinnen meines Romans, aber letztlich auch für meine Familie, bedeutete. 
Die wichtigste Lektion für mich war es, zu verstehen, wie sehr sich die Lebensverhältnisse dieser Frauen unterschieden, obwohl es im Sozialismus geheißen hatte, es gäbe nur den einen Weg. Nur diese eine Möglichkeit, zu leben. Abweichungen wurden nicht geduldet. Aber das, was mir diese Frauen erzählten, war so divers, wie das Leben eben überall ist. Es gab Arme, und es gab Bessergestellte. Es gab Frauen, die sagten, ihnen standen viereinhalb Quadratmeter Wohnfläche zu, andere hatten große Wohnungen für sich allein, und dritte arbeiteten in Privatkliniken. Ich kontaktierte einen Historiker, um mich in all den Widersprüchen zurechtzufinden. Einmal gerieten zwei der Frauen in Streit, als ich sie interviewte, weil sie sich gegenseitig vorwarfen, mir »Quatsch« zu erzählen, wie sie es nannten. Es war einer meiner Lieblingsmomente, weil klar wurde, jetzt hören sie sich einander – vielleicht zum ersten Mal – richtig zu, wenn sie über ihre Vergangenheit sprechen. Ihren Gesichtern konnte ich ablesen, dass sie dachten, sie hätten in der Sowjetunion alle das gleiche Leben gelebt, aber das war Propaganda. Auch sie schauten in die Vergangenheit durch verschmiertes Glas und versuchten zu verstehen, was sich dahinter verbirgt. 

Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?

Ich denke, Literatur kann heutzutage, was sie schon immer konnte: Leben veranschaulichen, und zwar gelebtes Leben. Sie muss uns kein Wissen etwa im historischen Sinn über die Ukraine vermitteln, aber sie fügt der Realität, die uns umgibt, den Ereignissen, von denen wir täglich in den Nachrichten hören, eine weitere Dimension hinzu, und diese Dimension macht etwas erlebbar, was außerhalb unserer eigenen Erfahrung liegt. Als ich wissen wollte, wie die Menschen in den Jahren der Perestroika gelebt hatten, griff ich eben auch zu den Büchern von Serhij Zhadan. Nicht, weil ich dort nach historischen Fakten gesucht habe, sondern weil ich in seinen Texten Wahrhaftigkeit finde. 
Und natürlich ist es hilfreich, die Namen von Schriftsteller*innen aufzählen zu können, die in ukrainischer Sprache geschrieben haben und schreiben, wenn der Vorwurf des Aggressors lautet, es existiere keine ukrainische Literatur. Aber die eigene Existenz beweisen zu wollen, kann nicht der Antrieb für Literatur oder Kunst im Allgemeinen sein. Große Literatur wollte noch nie jemandem irgendetwas beweisen, sie ist einfach da. Und weil sie sich nicht vereinnahmen lässt, bleibt sie unvergesslich, und das allein ist schon ein Sieg.

Vielen Dank für deine Antworten.

Sasha Marianna Salzmann ist Dramatiker:in, Romanautor:in, Essayist:in und war Mitbegründer:in des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Sasha Salzmanns Theaterarbeiten erhielten zahlreiche Preise und sind in über 20 Sprachen übersetzt. Von 2013 bis 2019 war Sasha Salzmann Hausautor:in des Maxim Gorki Theaters Berlin, an dem Salzmann das Studio Яleitete. 2017 erschien im Suhrkamp Verlag das Romandebüt Außer sich. Der Roman erhielt zahlreiche, auch internationale, Ehrungen und ist in 16 Sprachen übersetzt. 2020 wurde Salzmann mit dem Kunstpreis für Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin sowie mit der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt der Universität Braunschweig ausgezeichnet. 2021 erschien Salzmanns zweiter Roman Im Menschen muss alles herrlich sein, der 2022 mit dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Hermann-Hesse-Literaturpreis geehrt wurde.


Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.


Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann und Volha Hapeyeva. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

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