Bei Lisa Roys Debütroman Keine gute Geschichte ist der Titel Programm. Zwischen Klassismus, verdrängten Traumata und verschwundenen Kindern bewegt sich die Hauptfigur durch ihr prekäres Essener Heimatviertel – Happy End nicht in Sicht.
Ich-Erzählerin Arielle ist Anfang dreißig und steht scheinbar mitten im Leben: Sie arbeitet als Social-Media-Managerin in Düsseldorf, kann sich die schicksten Klamotten leisten und geht gern mit ihren Freundinnen abends Sushi essen. Doch eines Tages geht plötzlich gar nichts mehr. Arielle wird so stark von einer Depression geplagt, dass sie schließlich in die, wie sie es nennt, »Klapse« gehen muss. Widerwillig stellt sie sich der Therapie und scheint trotz allem nicht so richtig daran zu glauben, dass ihr das wirklich helfen soll.
Kaum wird sie aus der Klinik entlassen, erreicht sie ein Anruf aus ihrer Heimat, ihrer Oma gehe es nicht gut. Ohne große Lust auf ihr altes Leben kehrt sie schließlich nach zwölf Jahren zurück in das »Problemviertel« Katernberg in Essen, dem sie vor so vielen Jahren erfolgreich entflohen war. Hier wird sie nicht nur mit ihrer verschrobenen und wenig liebevollen Großmutter Varuna konfrontiert, sondern auch mit dem Verschwinden ihrer Mutter vor 24 Jahren. Ist sie damals abgehauen? Ist sie tot? Warum hat sie ihre geliebte Tochter allein gelassen?
Getriggert werden diese Erinnerungen durch das aktuelle Verschwinden zweier Mädchen aus dem Viertel. Arielle unterstützt halbherzig die Suche nach den beiden, stromert durch ihr altes Viertel und schließt mangels Alternativen neue Kontakte. Da ist zum Beispiel Meryem, die ziemlich eso wirkt, sich um die benachteiligten Menschen im Viertel kümmert und alle zusammenbringen will. Oder John, der Vater der verschwundenen Ashanti, mit dem sie zunächst eine rein körperliche Beziehung beginnt, Sex auf dem Spielplatz inklusive. Oder ihre Kindheitsfreundin Jana, die plötzlich ganz schick im Reihenhaus wohnt und dort Kerzenpartys veranstaltet – snobby und anscheinend ohne Erinnerung an das prekäre Aufwachsen.
Früher gab’s hier Nutten, und manchmal kam der Zirkus, jetzt stand auf dem Platz ein schickes Neubaugebiet, das aussah, als wäre es erst kürzlich hier gelandet. Für wen ist das gebaut worden? Für Professoren von außerhalb, die nicht wissen, wo sie sich hier ansiedeln? Das ist die ärmste Postleitzahl Deutschlands, von hier aus werden keine Kinder zum Fechten gefahren.
Es passiert viel in Lisa Roys Debütroman Keine gute Geschichte – verschwundene Kinder, verschwundene Mutter, verdrängte Traumata, psychische Erkrankungen, Familiengeheimnisse, sexuelle Gewalt, Klassismus, Suizid, heimliche Liebschaften –, und mir war es letztendlich etwas too much. Die knapp 240 Seiten dieses Debüts kamen mir überladen vor – zu viele einschneidende Ereignisse, obwohl die Hauptfigur eh schon so viel Ballast mit sich herumträgt. Da hätte es für meinen Geschmack nicht noch die vielen Enthüllungen (ich verrate an der Stelle mal nicht, welche) drumherum gebraucht. Andererseits hat mich die krimiartige Erzählstruktur mit den kleinen Cliffhangern zwischen den Kapiteln natürlich auch am Ball gehalten – so voyeuristisch bin ich dann doch.
Was mir gut gefallen hat, ist die Schilderung des Milleniallebens von Arielle. Damit konnte ich mich irgendwie identifizieren, was aber auch einfach daran liegen mag, dass wir eine Generation sind. Ich mochte auch, dass sie so ein störrischer, eigener Charakter ist, bei dem nach und nach immer mehr weiche Seiten hindurchschimmern. Im Gegensatz zu vielen anderen Figuren im Buch, die etwas schablonen- und klischeehaft bleiben, hat mir die Ausdifferenzierung Arielles sehr gut gefallen – hierin liegt die Stärke des Romans.
Trotz aller Schwächen bleibt Keine gute Geschichte ein Buch, das sich gut liest und die Ruhrpottatmosphäre sowie die Generation der Millenials gut einfängt. Und wer sich mal wieder mit einer eigensinnigen und nicht gefälligen Hauptfigur auseinandersetzen mag, ist bei Lisa Roys Debütroman auf jeden Fall an der richtigen Stelle (wie auch bei MTTR von Julia Friese).
Lisa Roy: Keine gute Geschichte | Rowohlt Verlag | 240 Seiten | 22 Euro | Erschienen im März 2023