Ottessa Moshfegh: Lapvona

Vom nackten Grauen der Menschlichkeit: In ihrem neuen Roman Lapvona erschafft Ottessa Moshfegh eine mittelalterliche Welt, die alles Leid und alle Bosheit der Menschheit in sich trägt. Ein schmerzhafter Geniestreich.

Ottessa Moshfegh: Lapvona

Vor mittlerweile ziemlich vielen Jahren habe ich meine Magisterarbeit geschrieben. Ja, Magister. Das war ein wilder Ritt, wie solche Abschlussarbeiten eben so sind: Blut, Schweiß, Tränen – einmal alles, bitte. Entscheidender ist im Zusammenhang mit Lapvona von Ottessa Moshfegh aber das Thema, und das war Kreatürlichkeit in der Literatur. Nicht im religiösen Sinn, also die Kreatur als von einer höheren Entität erschaffenes Wesen, sondern im Sinne der existenziellen Nacktheit und Hilflosigkeit, die zutage tritt, wenn die gesellschaftlichen Masken fallen und die Fassade bröckelt. Und davon gibt es in Lapvona einiges zu entdecken.

Der Roman spielt in einem kleinen Herzogtum oder ähnlichem, das natürlich Lapvona heißt. Dort findet sich alles, was wir auch aus mittelalterlichen Erzählungen so kennen. In erster Linie ist das das Dorf mit seinen bettelarmen Bewohner*innen, die sich jede kleinste Besorgung vom Mund absparen müssen, und der Herrscher Villiam in seinem Schloss, das hoch oben über dem Dorf liegt. Dazwischen hantieren die Räuber, die Villiam anheuert, um das Dorf zu terrorisieren, immer dann, wenn es ihm zu sehr nach Aufstand riecht. Oder ihm einfach zu langweilig geworden ist. Dazu gibt es die in einer ganz eigenen Welt lebenden Schlossbediensteten, eine Hexe, ein Kloster – Mittelalter eben.

Die Gegensätze von Arm und Reich, von Zentrum und Peripherie, Privilegiertheit und Diskriminierung strukturieren die Erzählung. Immer wieder wechselt die Perspektive zwischen Schloss und Dorf und zeigt so, wie die Schere zwischen den beiden Welten, die so nah beieinanderliegen und doch einfach gar nichts miteinander gemein haben, auseinanderklafft. Todesangst und Langeweile kommen einfach nur sehr schlecht zusammen. Oder doch?

Villiam schlief in seinem Himmelbett. Er träumte, das Bett sei aus menschlichem Fleisch gemacht, sei ein Lebewesen aus Fett und weicher Babyhaut. Er lag unter der Decke und streichelte sein feines Seidenlaken. Er kannte weder Verletzungen noch Hunger, aber er war knochig, und ihm tat oft alles weh, wenn er auf dem Sessel oder dem samtenen Sofa saß, weil sein Körper so empfindsam war.

Das Zitat zeigt, wie neben den Gegensatz von Arm und Reich ein zweiter tritt, der den ersten ergänzt, und zwar Körper und Geist. Lässt sich der erste kaum wegdenken, ist der zweite nur ein Scheingegensatz. Denn mitnichten kommt in Lapvona irgendein Pathos auf, werden die Armen als charakterlich edel oder gar rein und der Fürst als böse beschrieben. Es ist vielmehr so, dass die beschriebenen Körper jeweils auf ihre ganz eigenen Weisen ungenügend sind. Die Armen sind von schwerer Arbeit und fehlender Medizin geschunden und schief, die Reichen dagegen von Langeweile und Faulheit krumm und gebeugt. Charakterlich sind sich aber alle ziemlich gleich, nämlich abgrundtief schlecht.

Dieses Panoptikum der menschlichen Niederträchtigkeit wird geschildert in einer Sprache, die perfekt zur Schwärze des Romans passt. Der Stil ist zwischen Märchen und Realismus angesiedelt. Die auktoriale Perspektive hält einen maximalen Abstand zu allen Personen, bringt niemandem großartig Wärme oder Zuneigung entgegen. Die Kälte der Darstellung wird durch eine trockene Wiedergabe auch der niedersten Gedanken vervollständigt, sodass der innerste, schwärzeste Kern der Menschen zum Vorschein kommt. Das negative Bild der Kreatürlichkeit in Reinform, ohne jedes Mitleid.

Lapvona von Ottessa Moshfegh ist ein wahnsinniger Roman. Wahnsinnig kalt, dunkel und böse kommt er daher und wirft damit Licht in einen Teil auch unserer heutigen Gesellschaft, den wir meistens lieber gar nicht sehen würden. Der Roman macht in seiner Gnadenlosigkeit genauso viel Spaß wie er deprimiert und ekelt. So bewegend muss Literatur sein, ob es nun gefällt oder nicht. Und übrigens: Meine Magisterarbeit hat eine ziemlich gute Note bekommen, also zumindest da gab es ein Happy End.

Ottessa Moshfegh: Lapvona | Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger | Hanser Berlin | 336 Seiten | 26 Euro | Erschienen im Januar 2023

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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