Spielen wir nicht alle Theater? Acting Class von Nick Drnaso taucht mit gewohnt einfachen Bildern tief in die Psyche seines Casts ab und überzeugt damit wieder auf ganzer Linie.
Ich bin ja immer wieder stolz wie Bolle, wenn ich mal so richtig rauslassen kann, was ich im Studium gelernt habe. Also los geht’s mit einem der Grundtexte der amerikanischen Soziologie des 20. Jahrhunderts: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag von Erving Goffman. Wie der Titel unschwer vermuten lässt, geht es darin um die Verkörperung unterschiedlicher Rollen im Alltag und die Dynamik der Interaktion von verschiedenen Personen. Dabei ist wichtig, dass dies nicht zwingend ein Schauspiel im abwertenden Sinne ist – im Gegenteil ist es ganz normal, immer wieder in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Authentizität ist in allen Rollen möglich, es sei denn, man beginnt, bewusst zu spielen.
In Acting Class von Nick Drnaso versucht eine Gruppe gewissermaßen das Gegenteil: zu spielen, um loszulassen. Sie alle sind in ihrem Leben eingefahren, gefangen in ihrer Beziehung, ihrer Comfort Zone, ihrer Angst, ihren Gewohnheiten, you name it. Durch einen Schauspielkurs, über den sie zufällig stoßen, wollen sie lernen, aus ihren Mustern auszubrechen und wieder zu sich selbst zu finden. Zu der Version, die sie einst mochten und wieder zurückhaben möchten. Doch irgendetwas stimmt nicht mit dem Kurs, irgendetwas ist faul.
Wie schon in Drnasos Sabrina, dem genialen Vorgänger, schaut auch Acting Class tief in die Seelen seiner Protagonist*innen und kehrt ihr Innerstes nach außen. Bemerkenswert ist, dass Drnasos Zeichenstil dabei gänzlich ohne Effekte auskommt. Die Zeichnungen sind schlicht, die Settings praktisch seelenlos, die Personen auf den ersten Blick flach und gewöhnlich. Erst in der Dynamik, die sich zwischen ihnen entspinnt, nimmt die Graphic Novel Fahrt auf und bohrt sich immer weiter in die Psyche der Figuren.
Das ist für eine Graphic Novel durchaus textlastig. Das beeindruckend große und schwere Buch ist proppenvoll mit kleinen Panels und noch kleineren Sprechblasen. Der Text in diesen ist bisweilen so klein, dass Leser*innen mit schwächeren Augen die Lupe zur Hand haben sollten. Das alles unterstreicht in erster Linie, dass hier die Novel groß geschrieben wird. Acting Class steht geschriebenen Romanen in Sachen Tiefe in nichts nach, sie kann im Gegenteil den Subtext der Zeichnungen für noch deutlich mehr Zweideutigkeiten nutzen, als die meisten Romane es schaffen. Die Übersetzung von Karen Köhler und Daniel Beskos überzeugt dabei durch die Bank weg.
Acting Class stellt prototypische Figuren und Verhaltensweisen der heutigen USA dar, ohne sie bloßzustellen. Zusätzlich durchweht die Graphic Novel ein dunkles Geheimnis, das Spannung erzeugt und Spaß macht. Und nicht zuletzt kann man hier ein lange zurückliegendes Soziologiestudium auspacken und mit den Figuren darüber sinnieren, was Goffman mit seinem berühmten Diktum meinte.
Nick Drnaso: Acting Class | Aus dem Amerikanischen von Karen Köhler und Daniel Beskos | Blumenbar | 268 Seiten | 28 Euro | Erschienen im Oktober 2022