Berlin – Chicago – Jerusalem: Gewässer im Ziplock erzählt vom Aufwachsen zwischen drei Ländern und Kulturen, sowie dem ganz alltäglichen Kampf einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst.
Bis 1948 – und spätestens seit der babylonischen Eroberung – war jüdisches Leben gekennzeichnet durch den Zustand der Diaspora. Das Leben in der Fremde war gut 2.500 Jahre lang das Schicksal der Jüdinnen und Juden, die längste Zeit davon ohne Hoffnung auf eine echte Heimat, einen eigenen Staat. Dass nach dem Holocaust und der folgenden Gründung Israels nicht das Ende der Probleme erreicht war, ist klar. Aber ein Zion war gefunden, ein eigener Ort, eine Heimat.
Doch die Folgen des Holocaust sind gerade in der räumlichen Zerstreuung vieler jüdischer Familien immer noch greifbar. Die Wohnorte zeichnen Fluchtrouten nach, bezeugen aber auch das Überleben an unwirtlichen Orten. Oder die Rückkehr an diese. So leben trotz allem noch immer viele jüdische Menschen in Deutschland, auch wenn sie nur noch ein winziger Bruchteil dessen sind, was vor der Machtergreifung der Nazis in Deutschland und Mitteleuropa lebte.
Einer von ihnen ist Avi, der mit seiner Tochter Margarita in Berlin lebt. Als junger Mann kam er nach Deutschland, um dem Wehrdienst zu entgehen. Mit seiner schwangeren Frau Marsha wollte er sich ein neues Leben aufbauen. Doch Marsha verlässt ihn, als Margarita noch klein ist. Sie wächst ohne Mutter auf, Avi kümmert sich aufopferungsvoll um sie, vernachlässigt dabei aber sich selbst. Als Marsha wieder in das Leben der beiden tritt, ist Margarita mitten in der Pubertät. Kein einfacher Zeitpunkt, der in eine wilde Familiengeschichte zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem mündet.
Gewässer im Ziplock von Dana Vowinckel erzählt die Geschichte abwechselnd aus den Perspektiven von Avi und Margarita. Höchst eindrucks- und gefühlvoll schmiegt sich die personale Erzählung an die beiden und ergründet ihre emotionalen Abgründe in der sich windenden Geschichte. Und Abgründe gibt es genug, denn an Dramatik fehlt es der Familie beileibe nicht, was mal lustig und mal traurig daherkommt.
Mit seinem Ensemble kann der Roman eine große Spannbreite heutigen jüdischen Lebens abdecken. Da ist Avi, der Israeli, der vor dem Wehrdienst in die Diaspora flieht und sich in die Religion versenkt und den Antisemitismus seiner Umwelt genau wahrnimmt. Dann Margarita, die als deutsche Jüdin aufwächst und von früh auf gelernt hat, ihr Anderssein in Deutschland zu verstecken und die Anfeindungen auszublenden. Dann die Großeltern, Marshas Eltern, die aus Polen in die USA emigriert sind, und natürlich Marsha, die in den USA aufgewachsen ist, dann nach Israel geht, um dort als Linguistin zu lehren.
Die überaus verschiedenen Erfahrungen, die die Figuren in ihren Leben gemacht haben, rahmen den eigentlichen Plot, der im Mittelpunkt des Romans steht: das Kennenlernen von Margarita und Marsha, die plötzlich zusammen in Israel sind, beide fremd, doch irgendwie zu Hause. Mit Höhen und Tiefen erzählt Gewässer im Ziplock die Annäherung der beiden, und stellt dabei gerade die schwankenden Emotionen Margaritas gefühlvoll und glaubhaft dar.
Gewässer im Ziplock überzeugt mit seiner empathischen Erzählweise und dem gekonnten Spiel mit der Dramaturgie, die beständig zwischen Höhen und Tiefen, Langsamkeit und Tempo wechselt, ohne dabei je zu verflachen. Ein Coming-of-Age- und Familienroman, der ein lebendiges Bild jüdischen Lebens in der Gegenwart zeichnet, ohne Konflikte auszusparen.
Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock | Suhrkamp nova | 363 Seiten | 23 Euro | Erschienen im August 2023