Der lange Weg zu sich selbst: In Paradiesische Zustände beschreibt Henri Maximilian Jakobs die Transition seines Protagonisten, die einen gnadenlosen Eindruck davon gibt, was trans Personen durchmachen müssen, um einfach nur sie selbst sein zu können.
Das Paradies. Eine Vorstellung, die seit 2.000 Jahren das Bewusstsein der westlichen Welt bestimmt, wenn es darum geht, den weltlichen Leiden zu entfliehen und endlich frei zu sein. Frei von Leid, frei von Zwang, frei von Gewalt. Ein paradiesischer Zustand wäre damit eben genau das: absolut frei zu sein, genau so, wie man eben ist, ohne dies an irgendeinem Außen zu messen. Einfach nur man selbst, ohne Kompromisse.
Für Johann ist so ein paradiesischer Zustand vermeintlich leicht zu erreichen. Ihm würde es schon reichen, wenn die Menschen um ihn herum ihn einfach als das erkennen würden, was er ist. Als Mann, sonst nichts. Kommend aus einer höchst schmerzhaften und einsamen Pubertät erkennt er als junger Erwachsener, dass nicht er falsch ist, sondern das Geschlecht, mit dem er aufgewachsen ist, das falsche. Mit der Erkenntnis beginnt ein mehr als nur steiniger Weg hin zum eigenen Selbst.
Paradiesische Zustände von Henri Maximilian Jakobs zeichnet Johanns Weg minutiös nach. Der Roman beginnt wie ein Stück Popliteratur in einem All-In-Hotel auf Gran Canaria, mit reichlich Suff und Blackouts. Nach einem denkwürdigen Abend mit zwei Drag Queens reift in Johann die Überzeugung, dass er ein Mann ist und dafür kämpfen muss, als solcher gesehen und anerkannt zu werden. Damit beginnen gleich mehrere Schlachten: eine mit ihm selbst und seinen Zweifeln, eine mit seinem Umfeld, Eltern, Freund*innen, Schule, und dann natürlich die mit den Behörden.
Passenderweise ist ja gerade die Ersetzung des Transsexuellengesetzes aus den 1980er-Jahren durch das neue Selbstbestimmungsgesetz im parlamentarischen Verfahren. Paradiesische Zustände schildert überaus plastisch, was das alte Gesetz für trans Personen bedeutet. Johann erzählt aus der Ich-Perspektive, was uns sehr unmittelbar an seinen Gedanken, Gefühlen und Ängsten teilnehmen lässt. So lernen wir den tief sitzenden Hass auf seinen Körper kennen, den er nur den »Wolpertinger« nennt. Sein beständiges Ringen mit den Reaktionen seines Umfelds, die natürlich sehr unterschiedlich ausfallen.
Und am wohl eindrücklichsten mit dem Staat, der Johann intimste Auskünfte abverlangt, um den Ernst seiner Absicht, als Mann anerkannt zu sein, immer wieder unter Beweis zu stellen. Als hätte er noch nicht genug damit zu tun, Geld zu verdienen, mit sich selbst klarzukommen und seine Freund*innen nicht zu verlieren, werden ihm permanent neue Gutachten und andere Unterlagen abverlangt, bis irgendwann – nach knapp sieben Jahren! – der neue Personalausweis auf dem Amt bereitliegt. Der Roman zeichnet diese Jahre gnadenlos nach. Genauso gnadenlos, wie Staat und Gesellschaft sich immer wieder Johann gegenüber verhalten.
Paradiesische Zustände beschreibt eine Transition in allen schmerzhaften Details. Der Roman nutzt dabei die Mittel der Popliteratur, um sie gegen den hedonistischen Strich zu bürsten und die Geschichte einer Emanzipation zu erzählen. Johanns Weg zu sich selbst ist alles andere als einfach, und so ist auch der Roman kein easy read. Aber das wäre hier auch sehr unpassend gewesen. Er ist genau richtig so, wie er ist. Gnadenlos und befreiend.
Henri Maximilian Jakobs: Paradiesische Zustände | Kiepenheuer & Witsch | 352 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Juni 2023