[wortmeldungen 2024] Konrad H. Roenne: This song is dedicated to the Somewheres 

Heute stellen wir euch schon den vorletzten Text von der Shortlist des diesjährigen WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises für kritische Kurztexte vor. This song is dedicated to the Somewheres von Konrad H. Roenne.

Heute hier, morgen dort. Die Redewendung wird gern genutzt, um rastlose Menschen zu beschreiben, und sie war dabei durchaus auch mal negativ konnotiert. Denn wer heute hier und morgen schon dort ist, der ist am Ende nirgendwo. Heute dürften viele Menschen anders auf die Redewendung schauen, denn die Fähigkeit des Ortswechsels ist zu einem Privileg geworden, das im neoliberalen Kapitalismus den Unterschied zwischen Arm und Reich ausmachen kann.

Denn die neoliberale Globalisierung hat die Möglichkeiten eines guten, höchst individuellen Lebens vervielfacht. Im Prinzip ist alles möglich. Doch eben nur im Prinzip, denn diese Möglichkeiten sind an Fähigkeiten gebunden, und zu diesen zählt – neben Bildung und der Fähigkeit, sich sehr gut zu verkaufen – vor allem Flexibilität, räumlich wie mental. Wer also nicht dazu in der Lage ist, sich ständig umzuorientieren, umzuziehen, in einer anderen Kultur, einer anderen Sprache zu leben, zu anderen Zeiten bis praktisch immer erreichbar zu sein – ist schneller abgehängt, als man Flexibilität aussprechen kann. Gerade in den Großstädten leben die abgehängten »Somewheres« direkt neben den flottierenden »Anywheres«, die die Mieten durch ständige Umzüge nach oben treiben und damit die Gentrifizierung anheizen.

Den Abgehängten widmet Konrad H. Roenne seinen Text This song is dedicated to the Somewheres. Form und Inhalt prallen hier geradezu lustvoll aufeinander, denn stilistisch orientiert sich der Text an märchenhaft erzählten Klassikern wie Gogols Die toten Seelen oder romantischen Kunstmärchen wie etwa jenen von Achim von Arnim. Mit schwungvoller Ironie und Sprachwitz beschreibt der Text das triste Leben der Menschen auf dem Arnimplatz in Berlin, genauer: im Prenzlauer Berg.

Der Stadtteil ist verschrien für seine Gentrifizierungsgeschichte, kamen doch nach der Wende wegen der günstigen Mieten in kaputten Häusern massenhaft Menschen aus dem Westen hierher, um den Stadtteil neu zu beleben. Was erstmal gut klingt, wurde in Kombination mit der Verramschung öffentlichen Eigentums und dem Einzug von Shareholder-Value-orientierten Immobilienkonzernen zum Albtraum für diejenigen, die den gesellschaftlichen Wandel nicht mitmachen konnten und können.

So beschreibt der Text die Menschen auf dem Arnimplatz, die mit ihren Bierflaschen und Zigaretten zwischen den vorbeirauschenden Anywheres sitzen und sich unterhalten, über alles und nichts. Die den immer gleichen Tag erleben, und doch Freude in ihrem Kleinod empfinden können. This song is dedicated to the Somewheres leistet in seiner literarischen Überformung genau das, was die öffentliche Hand nicht mehr schaffen wird: Er baut ihnen ein kleines Denkmal, das ihnen Würde verleiht und sie in gewisser Weise verewigt.

Hier könnt ihr den Text von Konrad H. Roenne nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir dem Autor ein paar Fragen gestellt.


Roenne

Warum hast du dich bei deinem Text, der sprachlich einem Arnim’schen Kunstmärchen gleicht, für eine eher moderne durchnummerierte Struktur inklusive Exkurs und Anmerkungsapparat entschieden?

Ich finde sehr schön, dass euch die Sprache an ein Arnim’sches Kunstmärchen erinnert, auch wenn das gar nicht von mir so gewollt war. Vielmehr standen hier bestimmte Texte der russischen Literatur Pate, deswegen auch das »Poem« im Untertitel. Gogols Tote Seelen oder Wenedikt Jerofejews Reise nach Petuschki sind zum Beispiel Poeme bzw. nennen sich so. Von Michail Bulgakow gibt es sogar einen Text mit dem Titel Die Abenteuer Tschitschikows. Poem in 10 Punkten mit Prolog und Epilog
Indem ich behaupte: »Das, was ich gerade schreibe, ist ein Poem«, verschaffe ich mir eine größtmögliche Freiheit, denn schließlich kann so ein Poem alles Mögliche sein. Und mit der Durchnummerierung ordne ich dann vielleicht diese Freiheit, die mir wiederum erlaubt, einen Anmerkungsapparat einzusetzen. Im Übrigen habe ich schon immer große Freude an der Einteilung und Umstrukturierung von Texten gehabt, weil sich dadurch der Text selbst noch einmal ändert.

Deine Protagonist*innen auf dem Arnimplatz wirken durch die Gentrifizierung abgehängt und doch wie eine eingeschworene Gemeinschaft – was hat dich dazu bewegt, diese Perspektive zu wählen?

Ich lebe, mit kurzen Unterbrechungen, seit über 30 Jahren in der Nähe des Arnimplatzes und fast täglich gehe ich über diesen Platz. Und lange ging ich an der Gruppe, die dort auf dem Arnimplatz sitzt oder vielmehr residiert, vorbei und beobachtete sie und dachte immer wieder, dass ich darüber in irgendeiner Form schreiben müsste. Und dann war irgendwann eine Stimme da, die ich hörte oder die ich selber sprach und die ganz klar das »Wir« einer eingeschworenen Gemeinschaft war, ausgestattet mit einem starken Pathos, das allerdings mit dem Schreiben des Textes immer wieder gebrochen wurde und sich abschwächte.

Songzeilen der Böhsen Onkelz stehen in deinem Text direkt neben verballhornten Paul-Celan-Zitaten – warum war es dir wichtig, genau auf diese Art und Weise intertextuell zu arbeiten?

Das passierte automatisch, nebenbei. Man geht ja ständig mit Zitaten, Zeilen, Versen, Sätzen umher. Cormac McCarthy sprach mal von dem »ugly fact«, dass Bücher aus Büchern gemacht sind. »The novel depends for its life on the novels that have been written.« Und das kann man letztlich auf alle literarischen Texte beziehen. Das heißt, ich greife beim Schreiben und beim Nachdenken darüber ständig auf bereits Geschriebenes und bereits Gesagtes zurück. Vor jedem Schreiben bin ich vor allem ja ein Leser, ein Lesender. Manchmal verfremde oder kopiere ich irgendeinen Satz oder eine Phrase und baue sie in den Text ein oder lasse mich davon beeinflussen, und manchmal funktioniert auch ein direktes Zitat. Überall lauern Sätze, die einen nicht loslassen bzw. ins Bewusstsein treten und die dann einfach zu passen scheinen. 

Inwiefern spiegeln Mikrokosmen wie der Arnimplatz in deinem Text unsere Gesellschaft wider?

Das Sportteam, eine Station in einem Altenheim und ihre Bewohner, die Jungs und Mädels, die immer an der Endhaltestelle der Straßenbahn abhängen, ein Trupp Hooligans, die Kommune irgendwo auf dem Land – Gemeinschaften außerhalb des Sozialverbands Familie faszinieren mich schon immer ungemein. Es gibt offensichtlich viele Menschen, die nicht gern allein sind. Und vermutlich bilden diese ganzen Mikrokosmen dann den Makrokosmos der Gesellschaft.

Was kann Literatur gerade heute bewegen?

Das kommt natürlich drauf an, wie man dieses Bewegen versteht, und auf die Adressaten. Was das Gesellschaftliche betrifft, hat die Literatur eher schlechte Karten; eine Netflix-Serie dürfte sicher mehr Menschen bewegen als ein Buch oder ein Text. Literatur ist ja eine Sache für wenige Leute, also rein zahlenmäßig, und eventuell werden es auch immer weniger, für die die Literatur – ganz besonders das Lesen! – relevant ist. Darüber kann auch die »Juli Zeh, Michel Houellebecq & Co«-Relevanz-Maschinerie nicht hinwegtäuschen. Ist zumindest mein Eindruck. 
Trotzdem bleibt die Kraft, der Zauber der Literatur natürlich bestehen – für sie bzw. für einen Text ist es ja letztlich irrelevant, ob einer oder ob Zehntausende durch ihn bewegt werden, davon berührt werden, und sich ins Abenteuer der Phantasie, des Geistes, der Sprache begeben, in eine andere Welt. 

Vielen Dank für deine Antworten.

Konrad H. Roenne wurde 1979 geboren, ist Autor und lebt in Berlin. Er arbeitete u.a. für das »Vice«-Magazin und in einer Einrichtung für psychisch Kranke. Seine Prosatexte und Essays wurden in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, u.a. in der Bella Triste, Lichtungen, Merkur. 2022 erschien sein Debütroman Hoch Mittag (Ammian Verlag Berlin). Für seine Texte erhielt er u.a. den Preis der Wuppertaler Literatur Biennale, ein Arbeits- und Recherchestipendium des Berliner Senats sowie das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin. 2024 ist er Stipendiat im Schloss Wiepersdorf.


Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.


Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann, Volha Hapeyeva und Judith Schalansky. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll noch unbekannte Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

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