Und hier ist er auch schon, der letzte Text der Shortlist des diesjährigen WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises für kritische Kurztexte: Die Möglichkeit einer Micky Maus von Frank Witzel.
Das menschliche Gehirn funktioniert auf verschlungenen Wegen. Wer kennt nicht die plötzlich in den Kopf schießende Erinnerung an eine bis dahin tief im Hinterkopf versunkene, vielleicht ganz abwegige Begebenheit, die beim Wahrnehmen eines ganz bestimmten Geruchs, eines Lieds oder auch nur eines Geräuschs von jetzt auf gleich wieder lebendig wird? Prousts Madeleine ist in der Literatur das prominenteste Beispiel für diese unwillkürliche Erinnerung, die durch einen noch so kleinen Reiz plötzlich wieder aufgerufen wird.
Dies kann natürlich jede Art von Erinnerung sein. Etwas anders verhält es sich jedoch, wenn man vom Tod eines Menschen aus dem eigenen Umfeld erfährt. Bei engen Freund*innen und Verwandten folgen Schock und Trauer, die Erinnerung ist hier nachgelagert. Doch das verhält sich anders, wenn es sich um Bekannte handelt. Natürlich ist auch hier eine gewisse Trauer manchmal dabei, doch führt ein solch unwillkürlicher Abschied eher zu einem ruhigen, andächtigen Nachdenken über die verstorbene Person.
In seinem Essay Die Möglichkeit einer Micky Maus erkundet Frank Witzel die Natur dieser unwillkürlichen Abschiede, vorrangig am Beispiel des Todes eines Nachbarn, von dem er zufällig erfährt. In einem beständigen Hin und Her gedenkt der Essay dem Leben des flüchtigen Bekannten und stellt darüber hinaus Überlegungen dazu an, was solche Abschiede für uns im Allgemeinen bedeuten. Ein überaus ruhiger, reflektierter, aber auch in seinen leisen Tönen berührender Text, der sprachlich gekonnt die klassische Form des Essays bedient.
Hier könnt ihr den Text von Frank Witzel nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.
Du arbeitest in deinem Text intermedial, indem du auch Fotografien und Songs mit einbeziehst. Wieso sind dir diese zusätzlichen Ebenen so wichtig?
In der Erinnerung rücken Bilder, Songs, Filme, Gelesenes und Selbsterlebtes für mich zusammen auf eine innere Ebene. Sobald ich mich mit Erinnerungen beschäftige, wie in diesem Essay, versuche ich, keine Assoziationen auszuschließen und bewege mich zwischen den unterschiedlichsten Eindrücken hin und her, um zu einem mehrschichtigen, wenn auch dennoch immer nur unvollständigen Bild zu gelangen.
Wie kann es deiner Meinung nach gelingen, beim Schreiben die »bereits betretenen Pfade« zu meiden und eigene Gedanken zu formulieren?
Diese Frage stelle ich mir mit jedem neuen Text, und ich glaube, dass jeder neue Text eine andere Antwort auf diese Frage finden muss. Zum einen versuche ich, den Schreibvorgang genau zu beobachten und nicht immer dem erstbesten Gedanken, der naheliegendsten Idee zu folgen, zum anderen überlasse ich mich einer Intuition, die verschiedenste Einflüsse, Ablenkungen und Störungen mit in den Schreibprozess aufnimmt. Gerade den Sätzen, die ich selbst nicht unmittelbar verstehe, gehe ich nach, um womöglich auf etwas zu stoßen, das mich selbst überrascht, weil ich es so zuvor noch nicht gesehen habe.
Wie sehr beeinflussen »unwillkürliche Abschiede und Erinnerungen« dein Schreiben?
Erinnerungen beeinflussen mein Schreiben, weil das Schreiben für mich im Wesentlichen aus einem Prozess der Erinnerung hervorgeht, selbst wenn ich mir etwas zu imaginieren versuche, was ich nicht erlebt habe und erst im Schreiben konstruiere. Die Erinnerung ist dann ein Referenzrahmen, der mir gewisse Anhaltspunkte gibt, auch wenn ich ihn oft zu umgehen oder zu durchbrechen versuche. Die sogenannten »unwillkürlichen Abschiede« mit denen ich mich in diesem Essay beschäftige, zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass ich sie in dem Moment, in dem sie sich vollziehen, nicht wahrnehme, womöglich nicht wahrnehmen kann. Ich entdecke sie, wenn ich Glück habe, im Nachhinein, dann erinnern sie mich daran, wie viel ich gerade nicht wahrnehme und möglicherweise Tag für Tag versäume.
Welche gesellschaftspolitische Relevanz hat das Thema des unwillkürlichen Abschieds für dich?
Womöglich hat dieses Thema gar keine gesellschaftspolitische Relevanz. Es ist dafür wahrscheinlich zu belanglos und banal. Aber genau das ist es, was mich daran interessiert hat. Es war ein eher unauffälliger Gedanke, dem ich versucht habe, einen Raum zu geben, und es ist, glaube ich, kein Zufall, dass mir dabei Begegnungen mit Menschen eingefallen sind, die scheinbar noch nicht einmal für mein Leben eine besondere Relevanz hatten, Menschen, die ein unauffälliges Leben geführt haben, an die sich womöglich nur Wenige erinnern, und die bestimmt nicht vorkommen, wenn man an gesellschaftspolitische Relevanz denkt. Bei dem Gedanken an diese unerkannten Existenzen hat mich die Frage bewegt, wie ich ihre Bedeutung, die sie zweifelsohne dennoch haben, darstellen kann, ohne sie in ein falsches Licht zu rücken oder denunziatorisch in die Öffentlichkeit zu zerren. Ob mir das gelungen ist, kann ich nicht sagen, aber es war mein Versuch, genau diejenigen zu beachten, die unbeachtet und scheinbar ohne größere Relevanz einen bestimmten Abschnitt meines Lebens begleitet haben.
Wie können wir dem ungewollten Verblassen von Erinnerungen entgegenwirken?
Wir können ihm, glaube ich, nicht entgegenwirken. Wir können uns ihm nur überlassen und sehen, welche Bruchstücke uns übrig bleiben, die wir nie zu einem vollständigen Ganzen zusammensetzen können, so sehr wir sie auch wenden und miteinander in Verbindung bringen. Erinnerung bleibt immer fragmentarisch, aber genau das macht ihren Reiz aus, dass nur etwas angedeutet wird, das auf etwas verweist, was nicht länger existiert und niemals vollständig rekonstruiert werden kann.
Was kann Literatur gerade heute bewegen?
Ich schreibe über das, was mich bewegt und versuche dem auf eine gewisse Weise gerecht zu werden. Der Ausdruck »etwas gerecht werden« erscheint mir, kaum, dass ich ihn hingeschrieben habe, so eigenartig, dass ich unwillkürlich vor ihm zurückschrecke und nach einem anderen Begriff suche, weil es so klingt, als könne ich beurteilen, was einem Menschen oder einem Ereignis zustünde. Dabei geht es darum nicht, im Gegenteil. Jetzt merke ich, dass ich den Ausdruck unwillkürlich gewählt habe, weil ich gerade versuche, nicht zu richten, sondern mich im Gerecht-werden-Wollen eher ganz dem zu überlassen, was ich darzustellen versuche, ohne mich dabei weder in den Vordergrund zu spielen, noch zu verleugnen, weder so zu tun, als gäbe es mich nicht, noch als könnte ich frei über den Text verfügen. Und um jetzt konkret auf die Frage zu antworten: Dass Literatur mich immer noch und jeden Tag aufs Neue bewegen kann, das zeichnet sie aus und macht sie, zumindest für mich, zu etwas Besonderem.
Vielen Dank für deine Antworten.
Frank Witzel wurde 1955 geboren, ist Schriftsteller. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und veröffentlichte seit seinem Lyrikdebüt 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, darunter die Romane Bluemoon Baby (2001), Vondenloh (2008) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ( Matthes & Seitz Berlin, 2015), für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. 2017 hatte er die Friederich-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach sowie zwischen 2017 und 2021 Poetikdozenturen in Heidelberg, Tübingen und Paderborn inne. 2021 wurde er mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien Die fernen Orte des Versagens (Matthes & Seitz Berlin, 2023). Frank Witzel lebt in Offenbach und Berlin.
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann, Volha Hapeyeva und Judith Schalansky. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll noch unbekannte Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.