Die Schmerzen des Patriarchats: Lucía Lijtmaer verknüpft in Die Häutungen zwei Frauen und ihren Schmerz über Jahrhunderte hinweg miteinander und legt damit einen erfrischenden Roman vor, der die ernüchternden Fortschritte der Emanzipation bloßlegt.
Im Zentrum von Madrid sitzt eine Frau in einer vollverglasten Wohnung ganz oben auf einem Bürogebäude. Es ist Nacht, das Zentrum verwaist, alle anderen Menschen sind bei ihren Lieben, irgendwo außerhalb. Nicht so sie, sie ist allein, wie sie es will. Hinter ihr liegt eine Reise, die von Barcelona und aus einem gewöhnlichen bürgerlichen Leben mit Freund*innen und Familie, Partner und gemeinsamer Wohnung hierher geführt hat. Soweit das Äußere. Eine Beruhigung, könnte man sagen. Ein Rückzug. Doch ist es nur die äußere Ruhe nach dem Sturm, denn in ihr brennen noch immer Wut und Verzweiflung.
Deborah Moody nacht vier Jahrhunderte früher ebenfalls eine Reise, ebenfalls nicht freiwillig. Sie wird nach dem Tod ihres Mannes aus London vertrieben und flüchtet nach Amerika, in die Neue Welt. Doch auch die freien Kolonien bieten keinen Schutz für eine Frau, auch hier greifen die Männer der Kirche nach ihrem Körper, ihrem Besitz, ihrer Freiheit. All ihr Aufbäumen kann nicht ankommen gegen den Willen einer Welt, in der das Patriarchat felsenfest verankert ist.
Die Häutungen von Lucía Lijtmaer bringt zwei Frauen zusammen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Der eine Strang ist geteilt in ein Vorher in Barcelona und eine Gegenwart in Madrid, und er schreibt sich beständig darauf hin, die Katastrophe, die zwischen den beiden Städten liegen muss, offenzulegen. Dabei schildert er eine Frau, die bricht, sich selbst verliert, scheitert. An sich selbst wie auch dem bürgerlichen Lebensentwurf, dem sie nacheifert, doch viel mehr noch an den Beschränkungen, mit denen die patriarchale Ordnung sie von einer Zufriedenheit mit sich selbst abhält. Um zurückzukehren mit der Kaltblütigkeit einer Frau, die nichts mehr zu verlieren hat.
Im Falle von Deborah Moody, die ihren Strang ebenso aus der ersten Perspektive erzählt, sind die patriarchalen Zwänge kein untergründiger Druck, kein schlechtes Gewissen, keine Scham, deren Ursprung zunächst unklar erscheint. Hier ist die Bedrohung handfest, sie muss immer wieder um ihr Leben fürchten. Sie lebt zunächst in Salem, dem Ort, an dem Ende des 17. Jahrhunderts über 200 Frauen als Hexen verbrannt wurden. Misogynie in Reinform. Kein Wunder, dass sie aus einem Grab erzählt und sich an einen Gott wendet, in dessen Namen sie womöglich verbrannt wurde.
Beide Stränge sind sprachlich schön differenziert, aus Barcelona und Madrid ätzt es nur so in Fäkalsprache, die Protagonistin nimmt kein Blatt vor den Mund, um alles und jeden um sich herum herunterzumachen, auch vor Handgreiflichkeiten und Intrigen schreckt sie keinen Moment zurück. Deborah dagegen ist ein Kind ihrer Zeit, sie drückt sich gewählt und defensiv aus, nur gelegentlich bricht die Wut aus ihr heraus. Sehr treffend beschreibt ein Blurb den Roman als explosive Mischung aus Bret Easton Ellis’ American Psycho und Ottessa Moshfeghs Lapvona.
Die Häutungen von Lucía Lijtmaer wagt etwas. Der von Kirsten Brand vortrefflich ins Deutsche übersetzte Roman kreuzt zwei Frauenschicksale über vier Jahrhunderte hinweg und zeichnet damit den Kampf gegen das Patriarchat über die Zeiten auf. Beide Stränge wirken nach außen so gegensätzlich, wie sie nur sein könnten. Die ätzende, unsympathische Frau in Barcelona, die sich den Lesenden erst ganz langsam öffnet und Verletzlichkeit zeigt, auf der einen, und die fromme, und doch vehement kämpfende Deborah auf der anderen Seite bilden ein ungleiches Duo. Doch in ihnen brodelt das gleiche Feuer, das die Frauen jeden Moment verzehren könnte.
Wo bleiben da die Fortschritte der Emanzipation? Sie sind da, sicher. Die Scheiterhaufen sind ins Digitale gewandert, sind zu Cybermobbing und gläsernen Decken geworden, zum Gender Pay Gap und Cat Calling, aber auch zu unzähligen unaufgeklärten Femiziden und Gewalt, die jedoch viel weniger in der Öffentlichkeit stattfindet. Ein mutiger wie aufwühlender Roman, der zeigt, wozu Fiktion in der Lage sein kann.
Lucía Lijtmaer: Die Häutungen | Suhrkamp | Aus dem Spanischen von Kirsten Brand | 219 Seiten | 25 Euro | Erschienen im März 2024