Zeit und Spiele: Morgen, morgen und wieder morgen von Gabrielle Zevin erzählt überaus unterhaltend von Freundschaft und Liebe in den frühen Tagen des Silicon Valley und sendet ordentlich Retro-Vibes für ältere Millenials.
Es ist eine zunächst unscheinbare Begegnung in der Bostoner U-Bahn, die eine Freundschaft wieder aufleben lässt und damit den Boden für eine große, tragische Geschichte bereitet. Sam erspäht seine Jugendfreundin Sadie in der Menge, durch die er aufgrund seines verletzten Fußes humpelt. Zunächst versucht sie ihn abzublocken, die Vergangenheit nicht an sich heranzulassen, doch mit viel Beharrlichkeit und Einfühlungsvermögen schafft es Sam, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen.
Mit Sams Mitbewohner Marx entwickeln die beiden im kommenden Sommer ein Computerspiel, das zum Überraschungserfolg wird. Doch während Sam auf der Welle des Erfolgs surft, macht Sadie zu. Sie ärgert sich darüber, dass das Spiel in einer männlich dominierten Tech- und Game-Welt meist Sam allein zugeschrieben wird. Andererseits scheut sie die Öffentlichkeit und zieht sich bewusst daraus zurück. Als sie mit ihrer Firma von Boston nach L.A. umziehen und damit in die Gründerszene des Silicon Valley eintauchen und die Firma immer größere Umsätze erzielt und weiter wächst, werden die Probleme für ihre Freundschaft nicht kleiner.
Morgen, morgen und wieder morgen von Gabrielle Zevin ist ein Roman wie ein bunter, vortrefflich zusammengestellter Blumenstrauß: Selbst wenn man die eine Blume an sich nicht so aufregend finden sollte, macht die Kombination alles wett und am Ende ist wirklich für jede*n Leser*in ein besonderer Aspekt dabei, der stark genug ist, um den Roman zu tragen. Die Themen sind Freundschaft, Liebe, Familie, Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit, Queerness, Klassismus, Ableismus – und natürlich die Computerspiele der 1990er und 2000er. Es wird also wirklich viel angeboten.
Die Kunst des Romans ist es nun, dass er diese vielen Themen durchweg sinnvoll und stimmig zusammenhält, sie klug über das Figurenensemble aufteilt und die Handlung so steuert, dass es immer wieder zu unterschiedlichen Schwerpunkten kommt und nie zu einseitig wird. Der Plot ist groß und teilweise ausufernd, aber so gut komponiert, dass er über die gesamte Länge trägt und einen wirklich guten Spannungsbogen aufweist. Die Sprache ist von den großen amerikanischen Erzähler*innen geprägt und von Sonia Bonné treffend ins Deutsche übersetzt.
Mein einziger Kritikpunkt an diesem ansonsten wirklich schönen Schmöker ist, dass er mir hier und da doch ein klein wenig zu konstruiert, dadurch pädagogisch erklärend und auch etwas anachronistisch wirkt. Denn wirklich alle jüngeren Figuren sind hier queer, was gerade auch in Anbetracht der Zeit, in der der Roman spielt, nicht ganz plausibel erscheint und damit ein bisschen Pinkwashing an den 1990ern und 2000ern betreibt. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.
Morgen, morgen und wieder morgen von Gabrielle Zevin ist ein Roman, der die Leser*innen einsaugt und nicht wieder loslässt. Er ist sehr gut geschrieben, spannend, intelligent und gespickt mit Themen, die noch heute von größter gesellschaftlicher Relevanz sind, und hat dazu einen Retro-Vibe, der mir Freude gemacht hat. Genau so muss Unterhaltung sein.
Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen | Eichborn | Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné | 560 Seiten | 25 Euro | Erschienen im Februar 2023