Franz Friedrich: Die Passagierin

Rettung durch die Zeiten: Die Passagierin von Franz Friedrich entwirft eine sanfte Utopie, die Menschen unterschiedlicher Jahrhunderte in einer fernen Zukunft zusammenbringt.

Friedrich, Die Passagierin

Zeitreisen sind ja so eine Sache. Werden sie schön einfach in Szene gesetzt wie etwa in Zurück in die Zukunft, können sie ein Gedankenexperiment sein, das Spaß macht und gleichzeitig eine Reflexion über den Lauf der Zeit und die Tragweite einmaliger, vielleicht ganz klein erscheinender Entscheidungen erlauben. Doch es gibt auch zahlreiche Bücher und Filme, bei denen Zeitreisen vom Vehikel zum alleinigen Effekt werden und sich dann viel zu schnell in Widersprüchen verstricken. Da bin ich dann eigentlich immer raus, und da es so viele dieser Werke gibt, gehe ich meist schon beim Begriff »Zeitreisen« in Abwehrhaltung.

Um es jetzt gleich zu sagen: Die Passagierin von Franz Friedrich gehört zur ersten Kategorie, also der guten Zeitreise, die zur Reflexion einlädt, anstatt massenhaft Effekte und Widersprüche aufzufahren. Ganz im Gegenteil ist der Roman getragen von einer fast meditativen Ruhe, die tief in der Sprache und der langsam voranschreitenden Handlung eingeschrieben ist. Knalleffekte liegen dem Buch sehr fern, auch wenn es seine Anziehung ganz zentral aus der Zeitreise bezieht.

Heather ist die Erzählerin, die titelgebende Passagierin. Sie ist im Sachsen der 1990er Jahre aufgewachsen, um dann noch als Teenager evakuiert zu werden. Auf solchen Rettungsmissionen wurden lange Menschen aus ihrer Zeit in die Zukunft evakuiert, um sie vor Gefahren zu retten – mal vor äußeren Bedrohungen, mal vor unheilbaren Krankheiten. In der Zukunft angekommen, lernen sie in Sanatorien ihre neue Welt kennen, die neue Sprache und Gepflogenheiten, um dann als normale Bürger*innen ein Teil dieser Welt zu werden.

Heather geht später selbst auf solche Evakuierungen, nach deren Einstellung dann auf Forschungsmissionen in der Vergangenheit. Sie plagen jedoch zunehmend Phantomerinnerungen, falsche Erinnerungen, die von richtigen kaum zu unterscheiden sind und die Persönlichkeit verzerren – eine Nebenwirkung der Zeitreise. Deshalb begibt sie sich zurück nach Kolchis ins Sanatorium Nr. 9, in dem sie die Zukunft kennenlernte. Dort trifft sie auf eine verfallende Welt, in der versprengte Gestalten mit ihrem Leben hadern und wird Teil dieser Gruppe.

Die Passagierin spielt mit Science Fiction und lehnt sich sehr weit in das Genre hinein. Allerdings verzichtet der Roman auf ein groß angelegtes World Building, um alle Kleinigkeiten und Zusammenhänge der gezeigten utopischen Welt zu erklären. Sie erschließt sich mit jeder Seite ein klein wenig mehr, aber ein kohärentes Gesamtbild, ein geschichtlicher Abriss oder ähnliches ergibt sich nie. Und das muss es auch nicht, da der Kern des Roman nicht im Aufzeigen einer dystopischen Zukunft, sondern in der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung über die Zeiten hinweg liegt.

Die Gruppe in Kolchis reflektiert in Gesprächen die Herkunftszeiten der Mitglieder. Dabei rücken zwei Themen immer wieder in den Mittelpunkt: Gewalt und Verantwortung. Das zeigt sich vor allem in Matthias, der in den Bauernkriegen gegen die Armee von Thomas Müntzer kämpfte und nicht von dieser Zeit loskommt. Welche Verantwortung trägt er für die Niederschlagung des Aufstands? Welche für die Gewalt, an der er beteiligt war? Hätte er die Welt besser machen können?

Die Passagierin von Franz Friedrich ist ein ruhiger und rätselhafter Roman, der Science Fiction und eine höchst literarische Sprache zusammenbringt und von seiner dichten Stimmung lebt. Alles scheint von einer Dunkelheit grundiert, die nie ganz in den Vordergrund zu dringen vermag, in die die Protagonist*innen aber immer wieder ratlos blicken. Eine absolut lesenswerte Reflexion über Zeit, Gewalt und die Verantwortung des Menschen.

Franz Friedrich: Die Passagierin | S. Fischer | 512 Seiten | 25 Euro | Erschienen im April 2024

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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