[globale° 2024] Gröschner, Mädler, Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat

Was kommt dabei heraus, wenn sich drei ostdeutsche Frauen an sieben Nächten zusammen betrinken? Genau, ein Buch über den Osten, das wir im ostdeutschen Wahljahr 2024 mit offenen Armen empfangen.

Gröschner, Mädler, Seemann, Ostdeutsche Frauen, Cover

Für die Nachwende-Generation haben die DDR-Geschichten ihrer Eltern oft nicht viel mit der Gegenwart zu tun, sondern sind einfach nette, manchmal auch abstruse Storys aus der Jugend der Eltern und Großeltern. Anfangs erscheint auch dieses Buch, das größtenteils Dialoge der drei Autorinnen wiedergibt, wie ein leicht kritisches, aber auch wehmütiges Zurückblicken auf die DDR, die für die einen der ganze Lebensinhalt, für die anderen nur »eine Fußnote der Geschichte« (S. 8) gewesen ist. Doch im Laufe der sieben Nächte zeigt sich immer mehr die tiefe Verwobenheit der DDR-Geschichte und -Mentalität mit den heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen in Ostdeutschland. Es bleibt übrigens auch nicht beim küchenpsychologischen Gespräch dreier sich betrinkender Frauen, denn ihre Aussagen belegen sie in teils sehr ausführlichen Fußnoten.

Die drei Frauen widmen sich verschiedenen, für sie zentralen Themen wie Stereotypen, Feminismus, Körperbildern, Klasse oder Solidarität. Anders als populärwissenschaftliche Ansätze (wie z.B. bei Steffen Mau oder Dirk Oschmann) werden Konzepte hier oft heruntergebrochen und damit leichter nachvollziehbar gemacht, so erklären sie sich etwa Kants Dialektik der Aufklärung beim gemeinsamen Gummihopsen. Aber wie schon der Bezug auf Kant zeigt: Auch dieses Buch hat einen akademischen Grundton, der oft im Kontrast zu der »ostdeutschen Perspektive« steht. Die drei Frauen haben nach der Wende einen Aufstieg erlebt, was nicht alle Ostdeutschen von sich behaupten würden. Doch auch hier haben sie sehr spezifische Erfahrungen gemacht:

Ich habe mich nie ernsthaft gefragt, ob ich zu dick oder zu dünn bin. Aber ich habe mich oft gefragt, ob man mir meine Herkunft ansieht. Gerade im Kulturbetrieb. Den kleinbürgerlichen Hintergrund, »das Tal der Ahnungslosen«, den Osten in mir. Die Provinz kriegst du nicht aus dir raus, hat mal jemand zu mir gesagt. Ostdeutsche sind hässlich und dumpf, haben andere gesagt, die nicht wussten, dass ihnen gerade eine Ostdeutsche zuhört. (Peggy Mädler, S. 217)

Besonders spannend fand ich das dritte Kapitel, in dem die drei Frauen die Forderungen der Frauengruppe »Lila Offensive« rekapitulieren, an denen Annett Gröschner im Herbst 1989 mitgeschrieben hat. Dort forderte man eine »sozialistische Gesellschaft ohne patriarchale Verhältnisse – gemeinsam mit den Männern« (S. 82). Dieses Flugblatt lesen die drei Frauen nun über 30 Jahre später noch einmal und stellen fest, dass viele Punkte noch immer Baustellen sind.

Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat | 321 Seiten | 22 Euro | Erschienen im März 2024

Die »ostdeutschen Frauen« bei der globaleº 2024: Szenische Lesung mit Bowle am Sonntag, den 3. November 2024 um 16:30 Uhr im Theater Bremen. Diese Veranstaltung kostet Eintritt, Tickets und näheres dazu beim Theater Bremen.

Über die »ostdeutschen Frauen« habe ich ausführlich auch in Folge 10 unseres Podcasts Brotlose Künste mit meiner Freundin Franzi gesprochen.

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Schon als Kind habe ich mich zu den brotlosen Künsten, insbesondere der Literatur, hingezogen gefühlt. Heute beschäftige ich mich auch im wissenschaftlichen Bereich mit Kunst und Literatur und blogge im Internet über alles, was mich so anspricht. Auf Poesierausch darf ich euch in diesem Jahr die Bücher des globale° Festivals für grenzüberschreitende Literatur in Bremen vorstellen.

1 Comment

  1. Ha, das hab ich auch noch auf meiner Wunschliste stehen. Ist mir sofort ins Auge gesprungen in der Buchhandlung. Und es scheint ja wirklich toll zu sein. Ich würde deine Rezension sehr gern auf meinem Kriegsenkel Ost Blog Reposten, darf ich?

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