[wortmeldungen 2024] Förderpreis-Shortlist: Alexa Dietrich, Natalie Golob, Maurus Jacobs

Die Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreises für kritische Kurztexte steht fest, nun stellen wir euch die ersten drei Nominierten und ihre Texte vor: Alexa Dietrich, Natalie Golob und Maurus Jacobs.

Wortmeldungen Förderpreis

Beim WORTMELDUNGEN Förderpreis werden wieder neue Stimmen zu relevanten gesellschaftlichen Themen gesucht. Zehn Autor*innen sind mit ihren Texten über die Strahlkraft von Abschieden auf unsere Gegenwart und Vergangenheit für die Shortlist nominiert. In drei Beiträgen stellen wir sie euch vor, bevor im November dann die drei Preisträger*innen gekürt werden. Wie immer könnt ihr alle Texte auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachlesen – wir verlinken sie aber auch im Folgenden nochmal.


Alexa Dietrich: Kind, die Zeitung ist im Atlas

Alexa Dietrichs Text »Kind, die Zeitung ist im Atlas« breitet die Erinnerung einer Frau aus wie Karten in einem Atlas. Durch einen Zufall sieht sie ein Bild von sich selbst aus der Nachkriegszeit, einer Zeit, in der sie mit ihren Kindern die neugegründete DDR Richtung Westen verließ und mit ihren materiellen Besitztümern auch ihre Heimat zurückließ.

Durch seine an einen Atlas angelehnte Darstellungsweise der Erzählung der nun alten Frau findet der Text eine Weise, Erinnerung in all seinen Splittern und ungelenken Wendungen zu kartografieren. Gleichzeitig erzeugt er damit auch das lebendige Bild einer Zeit, in der die Unsicherheit greifbar war und zahllose Lebenswege sich neu sortierten.

Wir haben Alexa Dietrich ein paar Fragen zum Text gestellt:

Alexa Dietrich
© Inke Johannsen

Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?

Zunächst Freude: Das mit den Abschieden und Zeiten passt zu allem, womit ich mich aktuell in meinem Romanprojekt beschäftige. Aber auch Verwirrung: wie ein Gitternetz? Ein Gitternetz? So wurde das Thema zum Gesprächsaufruf für mich: viele Telefonate, Chats und Gespräche folgten. 

Aus Verwirrung wurde so erst ein Recherche-Tunnel, dann eine Einladung zu einer Form, die wiederum sehr viel Austausch gefordert hat. Auf einer Shortlist sieht es dann so aus, als hätte ich den Text alleine geschrieben, aber das stimmt so natürlich nicht. Eigentlich noch ein nicht vollzogener Abschied: Die Idee vom Schreiben alleine, dass ein Text einer Einzelnen gehört.

Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?

Eine Einladung zum Graben. Und, das klingt vielleicht kitschig, aber: Ein feministisches Gefühl der Verbundenheit über die Zeiten hinweg, also auch mit den Frauen, die vor uns waren. Und vielleicht eine kleine Zuneigung zu Literatur, die Regeln und Zwänge mag.

Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?

Screenshot aus https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:image-89

Das Foto ist Recherchematerial aus einem westdeutschen Dokumentarbericht von 1953. Diese Zeit scheint so weit weg, so vorbei, und dann der Sprecher: »Aber niemand soll sagen können, aus Berlin werde ein unkontrollierter Flüchtlingsstrom in den Westen weitergeleitet«, stolz: »Aus jedem Schicksal wird ein Aktenstück.« Noch ein nicht vollzogener Abschied. Ich frage mich in meinem Text u.a., welche Erzählungen einer Frau bleiben, die in den Aktenstücken der Wendepunkte ihres Lebens namenlos bleibt – und wie in diesen Geschichten die Vergangenheit in die Gegenwart ausgreift. Und will fragen, mit Text und Foto: Wie vergangen ist das wirklich alles?

Vielen Dank für deine Antworten.

Alexa Dietrich (*1996) schreibt Lyrik und Prosa. Sie studiert am Literaturinstitut Hildesheim und an der Freien Universität Berlin. Mit dem KRITTER Kollektiv arbeitet sie an einer sozialen Poetik. Für die Arbeit an ihrem ersten Roman und salz und sorge erhielt sie mehrere Stipendien.


Natalie Golob: An dem Tag als man mir sagte

»An dem Tag als man mir sagte« von Natalie Golob schickt die Leser*innen auf eine Gedankenreise. Die Erzählerin, eine ältere Frau mit erwachsenen eigenen Kindern, nimmt verschiedene Tode aus dem eigenen Umfeld zum Anlass, um von dort ausgehend über das eigene Leben und schließlich auch den eigenen Tod nachzudenken.

Sie stellt dabei ohne Hemmungen alle großen und kleinen Fragen des Lebens, ohne diese gegeneinander auszuspielen. Bemerkenswert ist der heitere Ton, den sie bei allem immer wieder aufscheinenden Ernst nicht ablegt. Und auch wenn die Erzählerin am Ende immer noch nicht viel für den Tod übrig hat, ist sie ihm doch irgendwie erzählerisch von der Schippe gesprungen.

Wir haben Natalie Golob ein paar Fragen zum Text gestellt:

Natalie Golob
© privat

Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?

Das Thema »Abschiede« ist für mich so eine Art wunde Stelle, von der ich nicht lassen kann. Ein Lebensthema, das ich drehe und wende in dem Versuch, mich einverstanden zu fühlen, aber es klappt nicht. Noch nicht vielleicht. Noch will ich alle und alles behalten. Was aber zum Scheitern verurteilt ist. Am Ende behalte ich nicht mal mich.

Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?

Es wäre schön, wenn er sie tröstet.

Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?

Eine Frau neben einem Stuhl am Meer mit grauem Himmel.
© Polina Sirotina

Die Frau auf dem Bild sieht aus, wie sich meine Protagonistin fühlt: Soll ich mich wirklich setzen? Vor diesen trüben Himmel, in den Wind, in dieses ungemütliche Leben, das mir so viel Angst macht. Ach, ich trotze dem Wind und weiß um den sonnengelben Stuhl. Vielleicht drehe ich noch eine Runde.

Vielen Dank für deine Antworten.

Natalie Golob (*1971) studierte Germanistik und Theaterwissenschaften und arbeitet als Organisationsberaterin, Coach und Regisseurin. Sie lebt in Nürnberg. 


Maurus Jacobs: »Und niemand kommt irgendwo an«

Eine Reise in die Vergangenheit bietet auch »›Und niemand kommt irgendwo an‹« von Maurus Jacobs. Der Text setzt die eigene Reise dabei in Verbindung zu Giorgios Seferis, der 1950 auf eine Reise in seine eigene Vergangenheit aufbrach, und zwar in die südliche Türkei, die in seiner Kindheit noch zu Griechenland gehörte.

Der Protagonist von Jacobs’ Text bricht auf zu dem Haus, in dem er seine ersten Lebensjahre verbrachte, bevor die Familie nach einem im Dunkeln bleibenden Unglück dort wegzog. Auf dem Weg zu dem Haus kommen dem Protagonisten immer wieder Bezüge in den Kopf zu unterschiedlichen Geschichten, die sich mit seiner Vergangenheit berühren. Und auch als er einsehen muss, dass seine Suche erfolglos bleiben wird, bleibt ihm doch die Gewissheit, Schritte in die richtige Richtung getan zu haben.

Wir haben Maurus Jacobs ein paar Fragen zum Text gestellt:

Maurus Jacobs
© privat

Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?

Ich fand die Themenvorgabe schön und auch hilfreich. Endlich habe ich mich hingesetzt und ein paar Gedanken in Worte gefasst, die mir seit Längerem durch den Kopf gehen.

Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?

Vielleicht bekommt jemand Lust, Seferis zu lesen – zum Beispiel sein Gedicht »Die Drossel«, das ich sehr mag.

Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?

Quelle: http://francomagnani.com/memory1.aspx

Gegen Ende meines Textes erwähne ich einen im Exil lebenden italienischen Maler, der sein Leben damit zugebracht hat, das Dorf zu malen, aus dem er in seiner Kindheit vertrieben wurde. Der Maler heißt Franco Magnani. Sein Stil ist nicht meins, aber seine Erinnerungsbilder passen gut, denke ich.

Vielen Dank für deine Antworten.

Maurus Jacobs (*1997) studierte in Leipzig, Havanna und Kyoto und promoviert derzeit an der LMU in München. Für seine literarischen Texte erhielt er u.a. das Spaltmaße-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung im Bereich Literatur, den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik, den Retzhof-Preis für junge Literatur und die Franz-Edelmaier-Residenz. 


WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

Kategorie Wortmeldungen-Förderpreis

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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