Und schon kommen die finalen vier Nominierten der Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreises für kritische Kurztexte: Mücahit Türk, Kathrin Vieregg, Lea Weber und paula van well.
Beim WORTMELDUNGEN Förderpreis werden wieder neue Stimmen zu relevanten gesellschaftlichen Themen gesucht. Zehn Autor*innen sind mit ihren Texten über die Strahlkraft von Abschieden auf unsere Gegenwart und Vergangenheit für die Shortlist nominiert. In drei Beiträgen stellen wir sie euch vor, bevor im November dann die drei Preisträger*innen gekürt werden. Wie immer könnt ihr alle Texte auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachlesen – wir verlinken sie aber auch im Folgenden nochmal.
Mücahit Türk: Holunder –
Der Text »Holunder –« von Mücahit Türk sinkt tief in die Erinnerung des Erzählers. Da ist die Mutter, die im Restaurant an der Ecke putzt, dort jedoch meist kritisiert wird – nicht ohne rassistische Untertöne. Kein Wunder, dass sie es nicht immer schafft, den Sohn von der Schule abzuholen. Doch er kommt allein zurecht.
Da ist noch der Vater, ein Fliesenleger, für den ein gebrochener Arm Monate ohne Geld, also ohne Essen für die Familie bedeutet. Ein Mann, der wenig zuhause ist, sich lieber totarbeitet als zu wenig zu verdienen. Ein Schatten für den Sohn, der Geschichten um ihn spinnt.
»Holunder –« erzählt von der Unmöglichkeit des Abschieds aus einem Schicksal, das von Armut und rassistischer Diskriminierung geprägt ist. Die kindliche Perspektive gibt dem Text eine Naivität, die die Ausweglosigkeit der Situation noch trostloser erscheinen lässt – gerade in einem reichen Land wie Deutschland.
Wir haben Mücahit Türk ein paar Fragen zum Text gestellt:
Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?
Ich verstehe es als eine Möglichkeit, in der Überlagerung und Verknüpfung zwischen Selbsterlebtem und Erinnerung zu einer Summe gelangen zu können. Besonders interessant finde ich den Bruch einer linearen Betrachtung, die in dem ausgerufenen Thema mitschwingt.
Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?
Ich kann es nicht sagen. Wahrscheinlich wünsche ich mir so etwas nicht. Sicher wäre es auch in Ordnung, wenn Leser:innen überhaupt nichts aus dem Text mitnehmen.
Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?
Es gibt da dieses eine Video von Francis Alÿs in dem er einen großen Eisblock durch die Straßen Mexico Citys schiebt. Nach kurzer Zeit reicht es aus, den Eisblock nur noch mit dem Fuß umherzutreten und nebenbei eine Zigarette zu rauchen. Am Ende ist dann nur noch eine kleine Pfütze übrig, das an ein Zuvor erinnert. Ich glaube, das hat etwas damit zu tun.
Vielen Dank für deine Antworten.
Mücahit Türk (*1997) schreibt Prosa, Lyrik und Theatertexte und studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2024 nahm er im Rahmen von TRANSLETTING an einem Übersetzungsaustausch mit der Columbia University teil. Aktuell arbeitet er an seinem ersten Roman.
Kathrin Vieregg: Eckbank
Der Abschied vollzieht sich in »Eckbank« von Kathrin Vieregg gleich doppelt. Zunächst ist da die Erzählerin. Auf einem Milchhof aufgewachsen, kennt sie weder Urlaub noch Luxus, dafür aber umso mehr Natur und die große Freiheit, auf dem Betrieb und drumherum tun und lassen zu können, was sie will. Doch mit dem Erwachsenwerden nähert sich der Abschied zum Studium in die Großstadt, dahin, wo aus Sicht der Landwirte die Grünen ihre Luftschlösser planen.
Doch dann ist da auch noch die Familie, und mit ihr der Betrieb. Die Zeiten haben sich geändert, die Preise für Milch sind seit Jahren im Keller, können die Familie kaum ernähren. Und dann sind da neue Vorschriften, Regulierung, Naturschutz. Damit auch neue Möglichkeiten wie Biobetrieb und Tourismus, aber die Müdigkeit lässt vor allem eine Option in den Mittelpunkt rücken: einfach aufgeben, sich verabschieden von der Bürde der Landwirtschaft.
Wir haben Kathrin Vieregg ein paar Fragen zum Text gestellt:
Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?
Die konstruktive Version eines Abschieds wäre ja, ihn als Übergang wach zu gestalten und die Vergangenheit so anschlussfähig zu machen. Ergänzungen, Verschiebungen und Neu-Kombinationen können gerade durch dieses »Vorher« wirkungsvoll werden.
In meinem Text ist es aber vor allem der Blick der Erzählerin, der sich verändert hat – und der verschiedene Abschiede enthält. Es stellt sich dann die Frage, was mit all dem passiert, das trotzdem die Gegenwart durchzieht: Bindungen an Orte, Menschen, Erinnerungen oder Vorstellungen. Versprachlichung ist hier ein Versuch der Sortierung, ein Abstecken von Feldern, und auch eines Jetzts.
Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?
Ich denke, die Erzählung funktioniert vor allem via Gleichzeitigkeit: Es sind verschiedene Gewohnheiten, Stimmungen und Hoffnungen, die sich geschichtet haben, über Zeiten und Hecken hinweg. Und eigentlich interessiert mich mehr die Resonanz darauf. Das Setting hier ist ein landwirtschaftlicher Familienbetrieb, könnte genauso aber ein ganz anderes sein. Sicher bedeutet das schon, dass ich mir wünsche, diese Ambivalenz irgendwie zugänglich gemacht zu haben – und besprechbarer. Auch, weil ich glaube, in den Widersprüchen in uns selbst liegt die Möglichkeit zu Empathie und Kompromissbereitschaft gegenüber anderen.
Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?
Vielleicht eine Luftaufnahme verschiedenfarbiger Felder, einzelne Häuser dazwischen. Das Rauszoomen, der Abstand zu einer sonst nahen Umgebung als Perspektivwechsel. Aber auch die von Weitem vereinfachende oder verklärende Sicht, die unter Kitschverdacht gerät. Dabei sperrt sich Kitsch ja aber immer auch gegen einen Abschied: versucht, zu glätten und damit zu bewahren.
Vielen Dank für deine Antworten.
Kathrin Vieregg (*1996) studierte Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel und ist als Sozialarbeiterin tätig. 2021 wurde sie beim 29. open mike ausgezeichnet, 2024 erhielt sie den Preis der jungen Dramatik.
Lea Weber: Wie schön es sein muss, Krallen zu haben
In »Wie schön es sein muss, Krallen zu haben« von Lea Weber lernen wir eine Protagonistin kennen, deren Mutter schwer krank ist. Sie verbringt ihre Tage im Bett, immer wieder muss sie ins Krankenhaus zu Untersuchungen – mittlerweile die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie das Haus verlässt. Oder der Pflegedienst nimmt sie gleich mit, wenn sie nicht gut aussieht.
Eine sehr schwierige Situation für eine Tochter. Der Text schildert ihr Leben zwischen der Tochter, die sich um die Mutter kümmern muss, und der 17-Jährigen, die einfach nur eine junge Frau sein will. Lieben, mit ihren Freundinnen rumhängen, Fußball spielen will, ohne ihre Mutter ständig im Hinterkopf zu haben. Und auch ohne diese große Wut, die in ihr liegt. Der Text macht die Spannung greifbar.
Wir haben Lea Weber ein paar Fragen zum Text gestellt:
Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?
Erstmal: Ich mag keine Abschiede. Und ich glaube, dass kein Abschied vollständig vollzogen oder abgeschlossen ist. Bei dem ausgerufenen Thema geht es für mich vor allem um das Erinnern, um Trauer, Verdrängung und Coping. Und sich vor Abschieden zu sträuben.
Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?
Das Gefühl ganz am Ende vom Text: Im Auto zu sitzen, auf dem Beifahrersitz, und der Wind fährt durch die Haare.
Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?
Mir war wichtig, dass der Text tröstlich gelesen werden kann. Dass es immer Dinge gibt, die Halt geben können: Wie eine Fußballmannschaft, ein Vereinsheim, ein schlechter Rasenplatz.
Vielen Dank für deine Antworten.
Lea Weber (*1996) studiert an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) mit dem Schwerpunkt Literarisches Schreiben. Ihre Texte wurden u.a. in der KHM-Anthologie veröffentlicht.
paula van well: pussy teich la mer
Die Miniaturen »pussy teich la mer« von paula van well sind Episoden queeren Begehrens. Sie handeln von der heimlichen Liebe eines verheirateten Mannes zu einem Freund, Sex während der Pause im Restaurant oder der schwierigen Frage nach einer exklusiven Beziehung, während tausende andere Möglichkeiten nur einen Swipe entfernt sind.
Die kleinen Versatzstücke ziehen die Lesenden schnell hinein in den kleinen Mikrokosmos der Protagonist*innen, um dann atemlos weiterzuziehen zur nächsten Szene. Zusammengehalten werden sie durch das Motiv des Wassers, in dem alles im Fluss zu sein scheint, das gleichzeitig aber auch die bedrohte Natur adressiert. Die konsequente Kleinschreibung und das Que(e)rformat unterstreichen, dass queere Themen zwar immer weiter in die Mitte unserer Gesellschaft rücken, aber immer noch ein weiter Weg zu einer kompletten Normalisierung nicht heteronormativen Begehrens nötig ist.
Wir haben paula van well ein paar Fragen zum Text gestellt:
Was bedeutet das von Frank Witzel ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2024 für dich?
Das Gitternetz als lückenhafte Abwesenheit – die Lücke als abgerissenes Bestehen – das Gitternetz als Abwesenheit, die immer wieder nicht besteht. Wie können wir über Abschiede schreiben, die nicht vollzogen werden? Wie können wir sie betrauern?
In meinem Schreiben denke ich Queerness und Umwelt, Theorie und Poesie zusammen. Zwischen Queerer und Ökologischer Theorie begegnet mir immer wieder der Begriff des Verlusts. Um diesen literarisch zu erforschen, suche ich Figuren, konkrete Orte, Geschichten – und finde dieses Mal: Miniaturen.
Was würdest du dir wünschen, das die Leser*innen aus deinem Text mitnehmen?
Den Impuls, nochmal zu lesen.
Welches Foto/Bild/Meme/YouTube-Video passt zu deinem Text und warum?
Naturalisierung sozialer Ordnung ❌
Wann laichen Crocs? ✅
Vielen Dank für deine Antworten.
paula van well schreibt Prosa, Theatertexte und Hörstücke und studiert am Institut für Sprachkunst in Wien. Veröffentlichungen in diversen Literaturmagazinen und Anthologien. paula ist Mitherausgeber:in der Literaturzeitschrift JENNY. Derzeit arbeitet paula an deren literarischen Debüt.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.