Clemens Meyer: Die Projektoren

Kaum ein Roman hat diesen Herbst so ein Echo hervorgerufen wie Die Projektoren von Clemens Meyer. Ich habe das epochale Werk gelesen und kann sagen: zu Recht!

Clemens Meyer: Die Projektoren, Cover

Da der Rummel im kleinen Literaturbetrieb unüberhörbar war, muss ich auch hier wohl kurz darauf eingehen, denn eine Schlagzeile in der BILD ist ja nun wirklich etwas Außergewöhnliches. Mittlerweile wurden Die Projektoren von Clemens Meyer in einer denkwürdigen öffentlichen Jurysitzung auch mit dem Bayerischen Buchpreis 2024 ausgezeichnet, nachdem der Deutsche Buchpreis zuvor an Martina Hefter und ihren Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? ging (Rezension dazu folgt auch noch). Das alles sagt für mich aber eher mehr über die Arbeit von Jurys und die Öffentlichkeit im Literaturbetrieb aus als über den Roman von Clemens Meyer, weshalb es hier weder um Vergleiche noch Anekdoten gehen wird, sondern nur um Die Projektoren.

Der Roman beginnt mit einem dreigeteilten Prolog, der die Marschrichtung des Romans vorgibt. Zunächst lauschen wir dem Gespräch zweier etwas wirrer alter Herren in einem Leipziger Sanatorium, wobei die Grenze zwischen Therapeut und Patient in der Schwebe bleibt. Dann sind wir in einer eiskalten Nacht im Zweiten Weltkrieg, im von Nazis aus Deutschland und Ungarn besetzten Novi Sad, und verfolgen einen Grenzgänger, der Menschen vor dem Tod rettet, dessen Agenda aber im Dunkeln bleibt. Und wir erleben den Old Shatterhand-Schauspieler Lex Barker, hier immer nur als »LEX« bezeichnet, der von seinen großen Zeiten und den Dreharbeiten zu den Karl May-Filmen in der jugoslawischen Vojvodina träumt.

Der Prolog öffnet den Raum den Romans. Die Kapitel spielen in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der nahen Gegenwart, zwischen Leipzig und Serbien, mit Ausflügen ins Ruhrgebiet, in die USA und den Irak. Mittelpunkt des Figurenensembles ist aber eine Person, die im Prolog nur indirekt vorkommt: der Cowboy. Das ist natürlich nicht sein richtiger Name, doch er bürgert sich schnell ein. Er ist vor dem Zweiten Weltkrieg geboren und wird bis in die 2010er Jahre leben, seine Lebenszeit strukturiert auch den Roman, ebenso wie seine Nachkommen, Freunde, Bekannten und Geliebten, die den Roman bevölkern.

Über dem Cowboy steht aber natürlich noch eine weitere Person, und zwar Karl May. Denn natürlich, sein Werk liefert die Motivation zu dem großen Erzählbogen, den Die Projektoren aufspannt. Seine Romane wurden als Feldpost im Zweiten Weltkrieg an die Front geschickt, sie lieferten die Grundlage der heilen wie fernen Wild-West-Phantasien der prüden Nachkriegs-BRD, die in den deutsch-jugoslawischen Verfilmungen der 1960er und 1970er Jahre eingefangen sind, und bilden bis heute die Grundlage zahlreicher sich im Laufe der Zeit wandelnder Diskussionen.

Die 14 chronologisch angeordneten Kapitel des Romans gehen dann jeweils hinein in einen ganz bestimmten Moment in der Zeit, der in aller Tiefe erzählt wird. Sie stehen für sich, schließen nie aneinander an, doch sind sie durch die Figuren und ihre Beziehungen zueinander eng verzahnt, auch wenn die Verbindungen nicht immer sofort aufscheinen. Die Kapitel variieren leicht im Stil, es gibt immer wieder ausufernde Gespräche, ein Register, eine Aufzählung, aber vor allem gibt es Geschichten, die aus dem klassischen Erzählen kommen, jedoch immer wieder in einen Bewusstseinsstrom übergehen, teilweise mitten im Satz kippen. Ebenso kippt auch die Sprache immer wieder ins Groteske, bleibt durchgängig spielerisch und nie vorhersehbar. Und – das sei nicht verschwiegen – gereift den diskriminierenden Sprachgebrauch der erzählten Zeit auf.

All das erfordert viel Aufmerksamkeit, um den vielen Schwenken und Anspielungen zu folgen. Ebenso fordern Die Projektoren eine Auseinandersetzung mit der Geschichte Jugoslawiens bzw. dann der unabhängigen Nachfolgestaaten und der zahlreichen Kriege, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion dort stattgefunden haben. Für den Roman ist die Geschichte Südosteuropas der Hintergrund, auf den die Kapitel wie Filme projiziert werden. Überhaupt ist er eine Geschichte der Gewalt, der in der Figur des Cowboys ein Antiheld zur Seite gestellt wird, der trotz aller inneren Zerrissenheit noch einen moralischen Kompass hat. Hinzu gesellen sich unzählige Motive, die immer wieder auftauchen, vor allem natürlich das Kino, dem der Titel entnommen ist.

Die Projektoren von Clemens Meyer ist ein beeindruckender Roman, der in Form und Inhalt ziemlich einzigartig ist. Er ist eine Zumutung an die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne seiner Leser*innen, ist anstrengend und ausufernd, streng komponiert und wild, traurig und verrückt. Lässt man sich auf die Zumutung ein, hat er unglaublich viel zu bieten und wird definitiv im Gedächtnis bleiben.

Clemens Meyer: Die Projektoren | S. Fischer | 1056 Seiten | 36 Euro | Erschienen im August 2024

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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