Zweimal Aussteigen: In Soledad erzählt Thorsten Nagelschmidt zwei Geschichten vom Ausstieg, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch ein gemeinsames Ende finden.

»Soledad« ist Spanisch für Einsamkeit. Ein Fleckchen Erde, das so genannt wird, dürfte also kaum vor Menschen wimmeln. So auch im winzigen Nest Soledad an der Küste Kolumbiens, in das es Alena auf Umwegen verschlägt. Frisch und überaus unsanft getrennt von ihrer Partnerin landet die Hamburger Fotografin in der Lodge von Rainer, ebenfalls einem Deutschen. Auch ihn hat es vor vielen Jahren über Umwege hierher verschlagen. Bei den Mahlzeiten kommen die beiden ins Gespräch und lernen sich kennen.
Alena und Rainer sind die beiden Figuren, um die sich Soledad von Thorsten Nagelschmidt dreht. Sie bekommen entgegengesetzte Erzählstränge: Läuft Alenas Erzählung mit kleinen Schwenkern in die Vergangenheit immer weiter vorwärts in eine für sie ungewisse Zukunft, so fängt Rainers Strang in den frühen Jahren der Bundesrepublik an, um sein bewegtes Leben bis hin in die Gegenwart zu erzählen. Auch stilistisch unterscheiden sie sich. So wird Alena sehr eng und personal erzählt während Rainers Lebensgeschichte aufgrund des rasenden Tempos fast dokumentarisch erscheint.
Damit treffen zwei Menschen aufeinander, die grundlegend andere Leben geführt haben. Ist Alena durch die Migrationserfahrung ihrer Jugend mit schwierigem Ankommen in Deutschland geprägt, ist es bei Rainer die raue Nachkriegszeit, die nachhaltig in ihm nachwirkt. Sie hat ihn dazu gebracht, Deutschland zu verlassen, sobald er dazu in der Lage war, um nach Südamerika zu gehen und dort eine neue Heimat zu finden. Alena wird dagegen immer mehr in eine Depression getrieben, da sie ihr Leben nicht richtig auf die eigenen Füße gestellt bekommt. Vernebelt von Diazepam rasen die Tage in der Lodge an ihr vorbei, bis plötzlich von außen die Katastrophe hereinbricht: Corona.
Soledad lebt vom Kontrast der beiden Stränge, die für sich zu einseitig wären, zusammen aber ein abwechselndes und unterhaltendes Wechselspiel ergeben. Die sanften Verzweigungen bringen ein wenig Spannung rein, ohne die Plots dabei zu eindimensional werden zu lassen. Damit verbindet der Roman mit Alena eine jüngere Figur, die mir täglich im Café gegenübersitzen könnte und wie ich sie zahlreich kenne, mit einem älteren Mann, anhand dessen Leben ein kompletter Abriss der Bundesdeutschen Geschichte mit einfließen kann. Beide treffen sich als Aussteiger*innen sowohl in Soledad als auch in ihrer Suche nach einer Heimat – im weiten Sinne eines Ortes, an dem man sich geborgen, aufgehoben, gebraucht und geliebt fühlt.
So ist Soledad von Thorsten Nagelschmidt eine entspannte Urlaubslektüre, der man kleine Längen aufgrund der gut gezeichneten Charaktere verzeiht und die einfach gut unterhält, ohne aufdringlich zu sein. Geschichte und Gegenwart kommen hier angenehm unaufgeregt zusammen, was seinen ganz eigenen Reiz hat.
Thorsten Nagelschmidt: Soledad | S. Fischer | 448 Seiten | 26 Euro | Erschienen im September 2024