Ricarda Messner: Wo der Name wohnt

Orte der Erinnerung: In ihrem Debütroman Wo der Name wohnt erzählt Ricarda Messner eine Familiengeschichte zwischen Riga und Berlin, in der die leisen, suchenden Töne dominieren.

Messner, Wo der Name wohnt, Cover

Gleich im Haus neben der Großmutter wohnen? Wie soll man da erwachsen werden, soll nicht mehr nur die umsorgte Enkelin, sondern eine erwachsene, im Leben stehende Frau sein? Sie entscheidet sich dafür, möchte ihrer Großmutter nah sein, die Nähe bewahren, die in ihrem Verhältnis liegt, auch wenn es manchmal doch Streit gibt und die beiden nicht mehr miteinander reden.

Doch dann stirbt die Großmutter, und mit ihr nicht nur ein zentraler geliebter Mensch, sondern auch ein Stück Familiengeschichte. Beim Auflösen der Wohnung tauchen immer wieder Fundstücke auf, die die Erinnerung anregen. Kleine Alltagsszenen werden wieder lebendig, werfen neues Licht auf den Alltag mit der Großmutter, dem Großvater, auch der Mutter. Und immer wieder greift die Erinnerung auch weiter aus, auf Großonkel, Urgroßmütter und auch andere Personen, die immer nur »Onkel« oder »Tante« genannt wurden.

Die Erinnerungen haben ihren Ort in Berlin, in der Wohnung der Großmutter. Doch sie wandern Stück für Stück weiter zurück in die Vergangenheit, bewegen sich immer weiter nach Osten, bis nach Riga. Von hier flohen die Großeltern aus der Sowjetunion, hier erlebten sie als Juden die Besatzung durch die Nazis, die Verfolgung, das Morden – das in der Sowjetunion in anderer Form weiter da war. Auch hier kann sich aus einzelnen Erinnerungsfetzen und Objekten, die sie in der Wohnung der Großmutter findet, immer mehr ein Bild zusammensetzen. Um die Geschichte ihrer Familie auch nach außen zu bewahren, möchte sie wieder den Namen ihrer Großmutter annehmen, mit dem sie auch geboren wurde – doch die Behörden zeigen sich unnachgiebig.

Aus der Ich-Perspektive erzählt Wo der Name wohnt von Ricarda Messner die Spurensuche der Erzählerin, ihre tastenden Versuche, immer ein klein wenig weiter in die Vergangenheit der eigenen Familie vorzudringen und damit auch ihre eigene Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Überaus intim und zärtlich ist ihre Sprache, zaghaft und fast schüchtern bewegt sich der Text nie gradlinig vorwärts, setzt oft neu an, um noch einen anderen Punkt zum Ausgang der Erinnerung zu nehmen.

Die Familiengeschichte zeichnet dabei immer klarer ein Bild der Verfolgung der osteuropäischen Juden zwischen Deutschland, Lettland und Russland. Lebendes Zeugnis dieser Vergangenheit ist die Großmutter, die die drei Sprachen spricht und immer wieder vermischt. So mischen sich auch im Roman die Sprachen und spannen damit ein enges Netz zwischen den Orten der Geschichte, die zusammen mit dem tastenden Stil einen dichten Text ergeben.

So ist das Besondere an dem Roman für mich zum einen die einnehmende Intimität der Erzählung und zum anderen der Blick ins Baltikum während des Nationalsozialismus, der für mich noch ziemlich neu und sehr interessant war. Damit konnte mich der Roman überzeugen, obwohl ich Familiengeschichten eigentlich nicht so sehr zugeneigt bin. Er erinnert mich dabei angenehm an die Romane von Maxim Biller, die ebenfalls jüdische Familiengeschichte zwischen Osteuropa und Deutschland erzählen, wie zuletzt Odessa.

Wo der Name wohnt von Ricarda Messner ist ein intimes und berührendes Debüt, das den Blick von Berlin in den Osten richtet und Zeitgeschichte als Familiengeschichte erzählt, ohne je die eigene Perspektive aufzugeben.

Ricarda Messner: Wo der Name wohnt | Suhrkamp | 170 Seiten | 23 Euro | Erschienen im Februar 2024

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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