Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude

Die USA von unten: In seinem zweiten Roman setzt der Shooting-Star der US-Literatur Ocean Vuong den armen Menschen seines Landes ein Denkmal in Form einer Great American Novel.

Vuong, Der kaiser der Freude, Cover

Hai steht mitten in der Nacht auf der King Philip’s Bridge in East Gladness, einem ziemlich trostlosen Kaff irgendwo in den USA. Er ist verzweifelt, frustriert, desillusioniert. Der letzte Entzug war nur ein kurzes Kapitel, um wieder mit den Pillen anzufangen, seine Mutter denkt, er würde in Boston studieren. Er hat es nicht übers Herz gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. Er klettert über die Brüstung, schaut dreißig Meter in die Tiefe, wo der Fluss dunkel dahinzieht. Seine Gedanken kreisen schon um den Moment, da alles vorbei sein würde, als er eine aufgeregte Stimme vom anderen Ufer hört.

Die Stimme gehört Grazina, einer aus Litauen eingewanderten Frau in ihren Achtzigern. Ihre Demenz wird immer schlimmer, aber über weite Teile des Tages ist sie klar – so wie auch jetzt, zu Hais Glück. Sie kommandiert ihn von der Brücke und nimmt ihn bei sich auf. Nicht ganz uneigennützig, denn sie braucht jemanden, der nach ihr sieht. Bei ihr bekommt Hai die Chance, seine Vergangenheit für einen Moment zu vergessen und neu anzufangen. Er wohnt bei Grazina und hilft ihr im Haushalt, beim Waschen und in ihren dunklen Momenten. Als sein Cousin ihm einen Job in einem Diner besorgt, schöpft er endgültig wieder Hoffnung, sein Leben wieder auf die Beine zu stellen.

In Der Kaiser der Freude erzählt Ocean Vuong wie in seinem Debüt Auf Erden sind wir kurz grandios von der Zeit des Erwachsenwerdens als Benachteiligter in den USA. Hais Familie kommt aus Vietnam, seine Mutter ist alleinerziehend, er ist schwul und hat die Schule zu früh abgebrochen, um Geld zu verdienen – mit dem er dann allerdings auf die Schiefe bahn geriet und medikamentensüchtig wurde. Alles Mögliche hat er genommen, um über die Tage zu kommen, eine Pille für jede Gelegenheit. Der Roman setzt an seinem Tiefpunkt an und begleitet ihn ein Stück auf seinem Weg. Der geht zwar keineswegs steil nach oben, aber immerhin wieder voran.

Der Kern von Der Kaiser der Freude liegt in der Schilderung der Minimal Wage Workers, der Mindestlohnarbeiter*innen der USA. Im Diner lernt Hai sie zum ersten Mal richtig kennen und wird einer von ihnen. Es gelingt dem Roman unglaublich gut, diese Menschen mit all ihren Macken, Gebrechen und Verletzungen ungeschönt darzustellen, sich aber eben nicht über sie lustig zu machen und die Würde zu nehmen, sondern sie ihnen einzuschreiben. Den Stolz auf ihre Arbeit zu zeigen, die andere Menschen abfällig betrachten mögen – oder gar nicht erst wahrnehmen. Das lässt auch die für mich doch ziemlich abgenutzte Grundkonstellation von Hai und Grazina, dem auffälligen Jugendlichen und der kratzbürstigen Alten, die zusammen eine vorhersehbar witzige wie rührselige Schicksalsgemeinschaft bilden, vergessen.

Der Roman rückt sie in den Mittelpunkt und setzt ihnen ein Denkmal. Dies tut er umso nachdrücklicher, da Der Kaiser der Freude vom lyrischen Stil des Debüts abrückt und sich komplett in die erzählerische Tradition der Great American Novel stellt, in der er sich nicht verstecken muss. Die über 500 Seiten sind gefüllt mit Leben und Erzählfreude, mit eindrücklichen kleinen Geschichten und viel Atmosphäre. Gleichzeitig geht mit diesem Zug für mich aber auch das sehr Besondere des Vorgängers verloren, nämlich die leise Zerbrechlichkeit und Eigensinnigkeit, die hier nur noch ganz selten aufscheint. Dieses besondere sprachliche, atmosphärische Vuong-Moment ist damit nicht mehr da, was den Roman nicht schlechter macht, aber für mich schon schade ist.

Der Kaiser der Freude von Ocean Vuong stellt sich mit Leichtigkeit in die erste Reihe der großen US-amerikanischen Romane der Gegenwart. Er setzt den Minimal Wage Workers ein Denkmal, schreibt ihnen die Würde ein, die andere Menschen ihnen gern absprechen. Das bleibt in Erinnerung. Dabei ist der Roman nicht ohne Schwächen, aber die Erzählfreude ist hier in der Lage, diese großzügig zu überschatten.

Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude | Hanser | Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl | 528 Seiten | 27 Euro | Erschienen im Mai 2025

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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