Dunkel und queer: Die Prozesse von Marius Goldhorn sind eine dunkle Dystopie, die die heutigen politischen Entwicklungen weiterdrehen und mit queerer Selbstfindung mischen.

Es kracht in der EU-Hauptstadt Brüssel: Eine Gruppe Aufständischer, die zuvor in Antwerpen eingekreist worden waren, stürmen ein Museum in der Innenstadt und besetzen es. Sie gründen eine Kommune, die vom Protestcamp schnell zu einer Stadt in der Stadt wächst und einen anarchistisch-egalitären Gegenentwurf zur im Faschismus versinkenden Außenwelt bildet.
Auch der Protagonist von Marius Goldhorns neuem Roman Die Prozesse tritt in die Kommune ein. Doch davor steht eine lange Irrfahrt mit seinem Partner Ezra, einem höchst kontroversen politischen Blogger, der schwer krank ist und immer stärker unter Verfolgungswahn leidet – nicht ganz unberechtigt wird er doch Opfer eines Anschlags, nachdem seine Identität gedoxt wird. Die beiden flüchten durch Frankreich nach Norditalien und verstecken sich dort. Doch weder kann Ezra vor seiner Krankheit fliehen noch der Erzähler vor den drängenden Fragen, vor denen er auch durch die Beziehung zu Ezra schon lange geflohen ist.
Die Prozesse zeigen ein im Faschismus versinkendes Europa, das in einer passend dunklen Farbpalette gezeichnet wird. Die Ich-Erzählung ist dicht und paranoid, hypnotisierend und voller Zweifel. So destilliert der Erzähler die Ängste der Menschen in einer Welt, die von Klimawandel und Faschismus zerfressen und immer weniger lebenswert wird. Gleichzeitig zeigt sie jedoch auch Gegenentwürfe auf, die aber nicht generell alle gutheißen werden. Denn während der lokale Subsistenzansatz auf dem Land gut zu funktionieren scheint, fängt die Kommune in der Hauptstadt schon nach kurzer Zeit an, ihre eigenen Kinder zu fressen.
Marius Goldhorn ist ein sehr atmosphärischer und dunkler Roman gelungen, der wenig Hoffnung ausstrahlt und literarisch aber einen großen Schritt seit dem Debüt Park gemacht hat. Das fand ich auch schon gut, wirkte aber noch eher »nur« zeitgeistig, während Die Prozesse nun Zeitgeist höchst literarisch einfangen. Mit seinem gerade anscheinend zum Standard der deutschen Gegenwartsromane werdenden Near-Future-Setting kommentiert der Roman zusätzlich aktuelle politische Entwicklungen subtil, ohne sich zu sehr aufzudrängen oder zu belehren – was auch für den Teil der queeren Selbstfindung gilt.
Marius Goldhorn: Die Prozesse | KiWi | 288 Seiten | 23 Euro | Erschienen im August 2025
