Robert Menasse: Die Hauptstadt

Die EU droht momentan an der Migrationskrise zu zerbrechen. In Die Hauptstadt (Suhrkamp) von Robert Menasse werden die Mechanismen, die hinter dem Schild EU stehen, mit einem vielseitigen Figurenensemble durchdrungen. Als Teufel im Detail erscheint zuletzt meist etwas vollkommen Unerwartetes: ein Schwein.

Robert Menasse: Die Hauptstadt

Die EU steht heute in der Wahrnehmung vieler Menschen für Regulierungswahn, Verkomplizierung einfacher Zusammenhänge, Zerstörung althergebrachter Traditionen. Und auch für den Festungsbau gegen Flucht und Migration aus ärmeren Regionen der Welt, die noch unter dem postkolonialen Erbe vieler EU Staaten leiden, in denen Krieg herrscht oder die ihrer Bevölkerung einfach kein würdiges Leben mehr bieten können. Sowohl die Festung als auch die zu krumme Gurke wurden zu Symbolen eines nach außen Handel erleichternden und Armut abblockenden, nach innen zwar Grenzen aufhebenden, aber durch Regulierungen neue Barrieren errichtenden Monsters von einer Institution.

Im Licht der aktuellen Entwicklung steht all dies auf der Kippe. Rechtspopulisten bedrohen nicht nur die nationalen Demokratien in Europa, sondern auch die Solidarität untereinander. Kein Staat, in dem Rechtspopulisten nicht im Parlament sitzen oder gar schon an der Regierung beteiligt sind. Auch und gerade in Deutschland kann uns aufgrund unserer historischen Verantwortung nur schlecht werden, wenn wir den politischen Diskurs dieser Tage betrachten. Nationalismus in verschiedenen, zu großen Teilen menschenverachtenden, fremdenfeindlichen Ausprägungen ist wieder zum Alltag in einer Region geworden, die sich vor vielen Jahren der supranationalen Solidarität verschrieben hatte.

In Die Hauptstadt führt uns Robert Menasse durch ein eng geknüpftes Netz von Personen an die Institutionen der EU, insbesondere an die EU-Kommission und deren Geschichte heran. Es erscheint heute wie ein Schlag ins Gesicht, dass deren Ursprung gerade in Auschwitz liegt, dem Symbol für die unfassbare Grausamkeit, zu der Nationalismus und Rassismus führen können und wohl immer wieder werden: »Nie wieder Auschwitz!« Die einstige Losung gegen das schlimmste Verbrechen, zu dem die Menschheit bis dato fähig war, wird heute auch gerne mal als »Vogelschiss« abgetan, wenn es darum geht, auf deutsche Leistungen in zwei Weltkriegen stolz sein zu dürfen.

Vor exakt diesem Hintergrund ist Die Hauptstadt zu lesen. Der Roman führt vor, wie die Behörden in Brüssel jeglichen Kontakt zu den Menschen in Europa verloren haben. Anstatt Politik für Menschen zu machen, haben sich die vielen Institutionen zunehmend zu einem eigenständigen Kosmos entwickelt, der sich zuverlässig um sich selbst dreht. Karrieren, Posten, Budgetierungen, Berichte und Sitzungen haben eine Eigendynamik angenommen, die von außen kaum noch zu durchdringen ist. Persönliche, parteistrategische, regionale und nationale Interessen stoßen dabei immer wieder unvereinbar aufeinander und Verkeilen sich im Labyrinth verschiedenster Teilzuständigkeiten zur vollkommenen Handlungsunfähigkeit. Zähe Kompromisse sind das Ergebnis, in denen sich meist nur schwerlich irgendeine Seite wiederfindet.

»Nie wieder Auschwitz« ist gut und richtig.
Ja. […]
Genau. Aber das ist kein politisches Programm.
Moral war noch nie ein politisches Programm. […]
Der Rat könnte das nie akzeptieren: Überwindung der Nationen. Das hieße Krieg. Gegen die Kommission. Und Aufruhr der Menschen in allen Ländern gegen Europa.
Genau.

Der Blick geht jedoch auch auf die gesamte europäische quasi-Hauptstadt Brüssel und den Einfluss der Institutionen auf diese. Wir erleben Think-Tanks, Geheimdienste, Polizei, Lobbyisten, Flüchtende, eine Abschiebung, einen dementen Holocaustüberlebenden. Und nicht zuletzt ein rätselhaftes Schwein, das sowohl in »Person« als auch in Gestalt des Europäischen Schweinezüchterverbands und in unzähligen Redewendungen als Motiv durch das Buch geistert. Dass dieses Schwein, das nur zweimal auftaucht, am Ende eine landesweite Diskussion und verschiedene Skandale auslöst, die schon lange nichts mehr mit dem eigentlichen Schwein zu tun haben, steht hier sowohl als Symbol für die Eigendynamik der Politik wie auch der Medien. Es ist der Fehler im System, das Leben, das sich nicht regulieren lassen möchte. Weder in Hinsicht auf seine Verwertbarkeit, noch auf seine Freizügigkeit.

Ich habe Die Hauptstadt von Robert Menasse als flammendes Statement für ein supranationales Europa gelesen, das sich auf seine Ursprünge zurückbesinnen muss. Sowohl um die Menschen in Europa wieder für seine Idee begeistern zu können, als auch um sich selbst aus der Lethargie zu befreien und handlungsfähig zu werden. Nur so kann das europäische Projekt weiterbestehen, um Europa in einer solidarischen Gemeinschaft zu vereinen, in der die Menschen sich zuerst als Europäer verstehen. Und irgendwann, ganz irgendwann, vielleicht auch einfach nur noch als Menschen.

Dass sich Die Hauptstadt hervorragend liest, klasse komponiert ist und es versteht, Tragik, Lethargie, Zynismus, Ironie und Humor zu einer unwiderstehlichen Kombination zu flechten, macht die Sache rund. Ich bin mal wieder ganz schön spät dran, aber ich kann sagen: Ein absolut verdienter Gewinner des Deutschen Buchpreis 2017.

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Cover

Robert Menasse

Die Hauptstadt *

Suhrkamp

459 Seiten | 24 Euro

Erschienen am 11.9.2017


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Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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