J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land

Manchmal brauchen nicht-deutschsprachige Romane eine gewisse Zeit, um auf dem deutschen Buchmarkt anzukommen. Im Falle von Ein Monat auf dem Land (DuMont) von J. L. Carr sogar ganze 36 Jahre. Obwohl Carrs A Month in the Country bereits nach seinem Erscheinen in Großbritannien 1980 zum Booker-Preis nominiert wurde, gibt es erst seit Kurzem auch eine deutsche Übersetzung des Romans. Eine Wiederentdeckung, auf die ich sehr gespannt war.

J. L. Carr | Ein Monat auf dem Land

In Ein Monat auf dem Land begleiten wir den jungen Tom Birkin, der im Sommer 1920 für vier Wochen von London in das nordenglische Oxgodby zieht. Er hat einen Auftrag: Als Restaurator wird er engagiert, um das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freizulegen. Dabei ist er nicht allein. Die Bewohner des kleinen Oxgodby interessieren sich sehr für den Neuankömmling aus der großen Stadt, mal mehr, mal weniger skeptisch. Birkin wohnt fortan im Glockenturm der Kirche, weil er sich kein Zimmer zur Miete leisten kann. Er ist dabei in guter Gesellschaft. Direkt nebenan haust der geschäftige Charles Moon, welcher ebenfalls auf Zeit engagiert wurde. Er soll nach alten Gräbern suchen. Die beiden Männer freunden sich schnell an und bemerken, dass sie etwas verbindet: Beide haben im Ersten Weltkrieg gedient und leiden unter den Folgen ihrer Erlebnisse dort. So dient Birkins Monat auf dem Land nicht nur der Geldbeschaffung, sondern wird nach und nach auch zur Therapie für den Engländer. Das Leben in der Provinz baut ihn auf. Er genießt das Gefühl, gebraucht zu werden, und beginnt, nachdem ihn seine Frau kurz nach dem Krieg verlassen hat, sich endlich wieder der Liebe zu öffnen.

Ein Monat auf dem Land lebt vor allem von der ruhigen und doch fesselnden Atmosphäre, die in diesem 144 Seiten langen Büchlein erzeugt wird. Beim Lesen hatte ich immer wieder das Gefühl, selbst in diesem Oxgodby der 1920er Jahre anwesend zu sein. Nicht zuletzt wird dieses Gefühl durch die liebevollen Beschreibungen im Buch hervorgerufen. Diese sind zwar detailliert, dabei aber keineswegs ausufernd.

Auch die Kirchhofmauer war in gutem Zustand, allerdings war die Klinke des schmalen Tors abgebrochen, und es wurde von einer Schnurschlaufe zugehalten.

Oftmals finde ich Texte mit großem Beschreibungs- und geringem Dialoganteil langatmig, bis teilweise gar dröge. Ein Monat auf dem Land allerdings findet genau das richtige Maß zwischen bloßer Beschreibung und zwischenmenschlichen Handlungen. Genau diese Ausgewogenheit hat mich so begeistert an J. L. Carrs Roman.

Hinzu kommt, dass die Hauptfigur Tom Birkin sehr glaubwürdig und vielseitig gestaltet ist. Ich mochte es, seinen Gedankengängen zu folgen, die vor allem von Ehrlichkeit und Interesse für neue Dinge geprägt sind. Dabei werden durch die Figur Birkins fast wie nebenbei Fragen eines Menschenlebens behandelt. Dieses Subtile hat mir gefallen, weil hier niemand mit der offensichtlichen Pathoskeule schwingt.

Ich sollte nie ein einziges Wort mit dem Colonel wechseln. […] Was mich anging, hätte er ebenso gut um die nächste Ecke biegen und tot umfallen können. Aber das trifft auf die meisten unserer Mitmenschen zu, nicht wahr?

Darüber hinaus brachte mich Birkins erbarmungslose Ehrlichkeit immer wieder zum Schmunzeln. Obwohl die Geschichte um den Londoner Restaurator vor fast einhundert Jahren spielt, kommen mir die Figuren dieses Romans wie alte Bekannte vor und sind mir sehr nah.

Auch Kunstinteressierten bietet der Roman von J. L. Carr einen Mehrwert. Das zu restaurierende Wandgemälde wird in seiner Gänze beschrieben und erläutert. Ich konnte hier vieles über historische Malerei lernen, sowohl über Symbolik als auch über Maltechniken. Birkins Gedanken drehen sich auch immer wieder um das Verhältnis von Kunstwerk und KünstlerIn. Diese Ausführungen sind sehr bereichernd und eröffneten mir eine ganz neue Perspektive auf die Bildende Kunst.

Ein Monat auf dem Land hat mich durchweg überzeugt. Dieser Roman bietet eine kurzweilige sowie bereichernde Lektüre, die von einem ruhigen Erzählton geprägt ist. An dieser Stelle sei auch die Übersetzerin Monika Köpfer erwähnt, die mit großer Wahrscheinlichkeit maßgeblich zu der sprachlichen Stimmigkeit dieses Romans beigetragen hat. Ein Monat auf dem Land von J. L. Carr ist ein richtiger Schatz, den der DuMont Verlag hier wiederentdeckt hat.

Noch ein kleiner Tipp von mir: Am besten lässt sich dieses Büchlein im Sonnenschein lesen, auch sehr gut im Hochsommer. Da passen dann erzähltes und reales Wetter so richtig schön zusammen. Zur Zeit sieht es ja eher etwas grau aus am Himmel, aber ich bin mir sicher, dass der „Goldene Herbst“ noch kommt. Wenn es dann soweit ist, wisst ihr, welches Buch ihr auf jeden Fall lesen könnt.

Weitere Besprechungen findet ihr u. a. auf 54books und Herzpotenzial.

J. L. Carr | Ein Monat auf dem LandJ. L. Carr

Ein Monat auf dem Land
(dt. Übersetzung: Monika Köpfer)

DuMont

ISBN: 978-3-8321-9835-0

am 19.07.2016 erschienen

Kategorie Blog, Rezensionen

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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