Bodo Kirchhoff ist einer der großen deutschsprachigen Romanciers der Gegenwart. Nach mehreren Nominierungen hat nun seine neue Novelle Widerfahrnis (Frankfurter Verlagsanstalt) den Deutschen Buchpreis 2016 gewonnen. Ein wichtiges Thema der Novelle ist dabei die Fluchtsituation in Europa. Ein klarer Fall für unsere neue Reihe Fluchtliteratur!
Julius Reither ist der Protagonist der gut 200 Seiten starken Novelle. Er hat vor kurzem seinen Frankfurter Verlag eingestellt und ist ins ruhige Weissachtal in der Schweiz übergesiedelt. Weg aus der Großstadt, weg aus der Hektik des Arbeitslebens, weg von seinen ihm immer fremder gewordenen Freunden und Bekannten. Hier lebt er zufrieden und allein, genießt die neu gewonnene Ruhe. Bis es eines Abends an seiner Tür klopft.
Auf dem Gang steht Leonie Palm, die Lesekreisleiterin aus dem Appartementgebäude, auf die Reither bisher nur abfällig herabgeblickt hatte. Aus einer Laune heraus bittet er sie herein, sie trinken ein wenig Wein, rauchen, lernen sich kennen. Sympathie und Zurückhaltung sind zunächst in unsicherem Gleichgewicht, bis Leonie Palm vorschlägt, wegzufahren, eine Probefahrt mit ihrem Cabrio:
Eine Probefahrt – Reither füllte ihre Tasse auf –, die macht man, wenn man ein Auto kaufen will, aber ich brauche keins. Man könnte aber einen Ausflug damit machen, morgen zum Achensee. Und wenn man etwas verrückt wäre, auch sofort.
Beiden fehlt diese Verrücktheit sehr und sie starten noch in der Nacht. Der Achensee ist schnell passiert, zu früh, um dort den Sonnenaufgang zusammen anzusehen. Schon sind sie am Brenner, morgens in Italien. Beide wollen zum Meer, aber so richtig gefällt ihnen die Adria nicht – schnell ist der Plan klar, sie fahren nach Sizilien. Langsam kommen sie sich näher, tasten einander vorsichtig mit Worten ab, während sie abwechselnd immer weiter nach Süden fahren und schließlich auf die Insel übersetzen. Dort werden sie mit einer Realität konfrontiert, die sie zuvor nur aus dem Fernsehen kannten und die ihre zarte Romanze herausfordert.
Bodo Kirchhoff schildert in seiner Novelle mit viel Einfühlungsvermögen die Annäherung zweier Menschen, die in ihren Leben schon viel erlebt haben und über die neue Situation ebenso beglückt wie von ihr eingeschüchtert sind. Momente forscher Schritte und vorsichtiger Zurückhaltung wechseln einander ab, verschiedene Ängste treiben beide um: die eigene Verletzlichkeit, die des anderen ebenso, die vielen Erfahrungen der Vergangenheit, die Angst vor dem Alleinsein, aber auch davor, wieder einen Menschen aus dem Leben verlieren zu können.
Die Tatsache, dass Reither vormals Verleger und Lektor war, wird dabei sehr schön aufgenommen. Immer wieder kommentiert der personale Erzähler Allgemeinplätze, meist romantische Gedanken Reithers, die dieser in seiner Rolle als Lektor in jedem Fall gestrichen hätte. Dies fügt dem sehr sicheren Stil Kirchhoffs, dem man seine langjährige Erfahrung deutlich anmerkt, eine leichte Ironie hinzu. Dadurch umgeht es der Autor sehr elegant, zu selbstsicher zu klingen, und schafft ganz im Gegenteil eine angenehme stilistische Leichtigkeit.
Reither beugte sich zur Tischmitte, Lass es dir schmecken – einer der Sätze, die schwer zu ertragen waren, wenn er sie vor sich sah, die man nicht einmal lesen musste, so sprangen sie ins Auge, wie ein billiges Bild, und jetzt hatte sogar die Antwort, Du auch, etwas Erhebendes.
Die Flucht ist dabei ein äußerer Faktor, der im Laufe der Erzählung immer stärker wahrnehmbar wird und die frisch Verliebten am Ende einholt. Zunächst sind da Marina aus Bulgarien und Aster aus Eritrea, beide in die Schweiz gekommen, um Arbeit und ein sicheres Leben zu finden. Sie bekleiden den Nachtdienst an der Rezeption der Wohnanlage und treten nur kurz in Erscheinung. Auf dem Weg in den Süden sind es immer wieder kurze Einbrüche der Flucht-Realität, die die Romanze aber nur leicht erschüttern. Camps von Geflüchteten am Straßenrand, in Gebüschen, auf Rastplätzen. Hier und da eine kleine Auseinandersetzung, ein kleiner Kontakt. Doch nichts wirklich Ernstes.
Doch in Sizilien bricht die Realität der Geflüchteten schließlich in Gestalt eines namen- wie sprachlosen Mädchens über Leonie und Reither herein. Reither möchte sie mit etwas Geld abspeisen und vergessen. Leonie dagegen will sich dem Mädchen annehmen, ihm mehr Unterstützung zuteil werden lassen als ein paar Münzen. Sie setzt sich damit auch gegen Reithers passive Haltung durch. Aber über die Frage, wie mit dem Mädchen weiter umzugehen sei, kommt es dann schließlich zur novellentypischen Katastrophe am Ende.
Im Kontext von Fluchtliteratur haben wir es hier mit einem Werk zu tun, das von einem Autor stammt, der aus dem Kreis derjenigen Staaten kommt, die das Ziel eines großen Teils der aktuellen Fluchtbewegungen sind. In diesem Fall aus Deutschland, der Protagonist Reither ist Deutscher und lebt in der Schweiz. Reithers Gedanken repräsentieren dabei einen Kreis von Fragen, Ängsten und Vorbehalten, die die aktuelle Lage in vielen Menschen Mitteleuropas hervorruft. Leonies Wille zur unbedingten, direkten Hilfe ist aber in ebenso vielen Menschen vorhanden. Es wird hier also die Situation vieler Mitteleuropäer*innen dargestellt, die den Geflüchteten grundsätzlich durchaus offen gegenüberstehen. Wie mit diesen umzugehen ist, überfordert aber zumindest Reither. Die direkte Konfrontation mit Geflüchteten zeigt ihm schnell die Grenzen seiner passiven Haltung auf. Leonie dagegen kann mit ihrem tatkräftigen, unbedingten Optimismus deutlich besser mit der Situation umgehen.
Für mich ist Widerfahrnis von Bodo Kirchhoff damit alles in allem ein würdiger Preisträger, und zum ersten Mal seit längerem wieder ein schlankes, konzentriertes Buch. Zugänglich und doch komplex stellt es Fragen, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz sind. Es beantwortet keine davon – das ist aber auch nicht seine Aufgabe.
Bodo Kirchhoff
Widerfahrnis
Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3-627-00228-2
erschienen am 1. September 2016