Den „lange erwarteten Liebesroman“ kündigt der Rückentext von Selbst (Suhrkamp), dem neuen Roman von Thomas Meinecke, vollmundig an. Wer schon einmal einen Roman des F.S.K.-Gitarristen, DJs und Schriftstellers Meinecke gelesen hat, wird wohl gleich stutzig. Wer nicht, sollte zumindest vorsichtig in die Lektüre starten.
Wo anfangen? Selbst fängt einfach an. Fängt an, mit Textschnipseln um sich zu werfen, Notizen wiederzugeben, Exzerpte zu zitieren, und hier und da auch etwas zu erzählen. Die Handlung spannt sich über das Beziehungsgeflecht einer Frankfurter WG. Eva, Venus und Genoveva sind die Bewohnerinnen, Henri, Sirius und Homer regelmäßige Gäste. „Drei Frauen, drei Männer – klar was da passiert!“, könnte man denken. Aber nur, wenn er oder sie noch keinen Roman von Thomas Meinecke gelesen hat.
Denn einfach ist hier nichts. Die bestimmenden Themen von Selbst sind Feminismus, Gendertheorie und -praxis. Um diesen Kern dreht sich der Textkosmos des Romans. Doch es geht hier nicht um die erzählerische Darstellung von Emanzipation oder Repression, sondern um die Frage nach dem titelgebenden Selbst eines jeden Menschen und wie dieses entsteht. Die Rolle des sozialen Geschlechts, Gender, steht dabei besonders im Mittelpunkt, gleich gefolgt von Sex, sowohl als biologischem Geschlecht als auch als Sexualität.
Klingt theoretisch? Ist es auch. In großen Teilen des Romans zumindest. Denn wie anfangs angedeutet, sammelt Thomas Meinecke verschiedene Textsorten und komponiert sie zu einem postmodernen Textgewebe, das sich gegenseitig stützt und so einen inneren Zusammenhalt und einen Drang zum Weiterlesen schafft, der zu Beginn nur schwer vorstellbar ist.
So stehen verschiedene Teile zunächst nur locker verbunden beieinander. Ein Beispiel: Am Anfang werden mehrere Exzerpte aus Briefen von und an Bettina Brentano/von Arnim in die Nähe von Auszügen aus Ihrem Roman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) gestellt. Zusammen mit einigen Mitstreiterinnen wie Rahel Varnhagen und Karoline von Günderrode gehört sie zu den wenigen schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts. Ihre weibliche Literatur widersetzt sich dem kanonischen Werkduktus der männlichen Literatur und wird erst in den letzten Jahrzehnten als Teil der Literaturgeschichte akzeptiert.
Ein anderer Strang entfaltet sich aus Venus’ Recherchen über deutsche Kommunisten, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Texas auswanderten. Eine ihrer ersten Siedlungen hieß: Bettina. In zahlreichen, direkt wiedergegebenen Quellen wird ein kleines Tableau der deutschen Siedlungskultur in Texas entfaltet, mit Steckbriefen zu allen bekannten Siedlern und ihren verschiedenen Siedlungen. Auch das Brentano-Haus in der Nähe Frankfurts wird behandelt.
Assoziative Nähe des Behandelten zueinander spinnt den Faden des Textgewebes, das so praktisch nie in bloßes Zusammentragen von Interessantem abgleitet. Immer ist ein – mal dünnerer, mal dickerer – roter Faden zu erkennen. Die Diskussionen der Protagonist*innen verstärken diesen nochmal, indem sie über zitierte Textteile reden bzw. die Teile direkt in ihre Gespräche eingeflochten sind.
Zentral – wie schon angedeutet – ist die Beziehung von Gender und Sex und deren Auswirkungen auf die geschlechtliche Selbstdefinition von Personen. Für mich war gerade dieser Hauptstrang des Buches ungemein interessant, da er eine enorme Menge von Texten aus unterschiedlichsten Quellen zusammenträgt und damit schon fast an die Qualitäten eines Readers heranrührt. Gerade die Selbstbeschreibungen trans- und intersexueller Menschen waren für mich in dieser Deutlichkeit neu und ungemein bereichernd.
Auch in den Gesprächen der Protagonist*innen ist dieses Thema präsent. Zwar hat keine der sechs Hauptfiguren Anpassungen am jeweiligen Körper vornehmen lassen. Doch widersetzen sie sich der Vorstellung eines binären Geschlechtermodells mit ihren Rollen und Zuschreibungen und verhandeln die Positionen in ihren Beziehungen immer wieder neu.
Vor allem bei Sirius und Venus ist dies überaus interessant zu verfolgen. Er ist zwar biologisch ein Mann, hat jedoch sowohl einen sehr weiblichen Körperbau als auch ein – wie sie es selbst in ihren Gesprächen definieren – eher feminines Empfinden. Venus dagegen ist als biologische Frau sowohl körperlich als auch geistig eher männlich geprägt. Dies führt in ihrer Beziehung häufig zu Problemen, da sie immer wieder von den traditionellen Rollenklischees eingeholt werden.
Henri ist in einer Dreiecksbeziehung mit Eva und Genoveva. Alle drei definieren sich als cis-hetero. Ihre Diskussionen drehen sich vor allem um die unterschiedlichen Erwartungen, die jede Person an eine Beziehung knüpft und die erotische wie auch soziale Ausgestaltung dieser Beziehung. Ihre Auseinandersetzungen sind dabei aber meist viel theoretischer als die von Venus und Sirius.
Thomas Meinecke zelebriert in Selbst seine postmoderne Schreibweise, die er schon in den zahlreichen Vorgängerromanen wie Tomboy (1998) und Lookalikes (2011) angewendet und in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Ich als Text beschrieben hat: das Sampling. DJ und Autor treffen sich hier im Mixen nicht eigentlich zusammengehörender, aber zusammenpassender und sich in der Mischung zu Neuem ergänzender Bruchstücke. Das haben andere Autor*innen der Postmoderne, wie Thomas Pynchon oder David Foster Wallace, seit den 1960er-Jahren auch schon gemacht.
Die besondere Qualität der Romane von Thomas Meinecke, insbesondere hier bei Selbst liegt für mich darin, dass die einzelnen Elemente zwar aus voneinander weit entfernten Zeiten, Orten und Kontexten stammen. Die Verbindung zueinander ist dabei aber praktisch immer klar und deutlich, und sie bleibt offen für Interpretation, da es nur selten kommentierende Textteile gibt. Dadurch findet eine stetige Erweiterung des Informationskosmos von Selbst statt, was für mich einen ganz vergleichbaren Effekt hatte wie eine Erzählung: Ich wollte wissen, was als nächstes kommt.
Oder wie die Haltung des Autors, der selbst als Freund der Hauptfiguren immer wieder im Roman auftritt, an einer Stelle beschrieben wird:
Explizit stelle sich Thomas in die Tradition einer weiblichen Schreibperspektive: Immer wieder proklamiert er für seine Texte feministische Qualitäten wie Durchlässigkeit, Offenheit, Unabgeschlossenheit. Das sprachliche Material durch sich hindurchgehen lassen, Diskurse zusammenflechten, verweben, verknoten, aber auch: sich darin bzw. diese in sich selbst verwickeln lassen, verweist auf eine spezifisch weibliche Ästhetik des Textilen […].
Unterm Strich war Selbst damit für mich ein gelungenes Leseerlebnis, das ich so schon lange nicht mehr hatte. Zwei Voraussetzungen sollte die*der geneigte Leser*in allerdings in jedem Fall mitbringen, um ebensolchen Spaß an dem Buch zu haben: zunächst natürlich Interesse an der Feminismus-Gender-Thematik; zusätzlich sind aber gute bis sehr gute Englischkenntnisse unabdingbar, da etwa ein Viertel des Romans aus englischen Quellentexten besteht.
Thomas Meinecke
Selbst
Suhrkamp
ISBN 978-3-518-42548-0
Erschienen am 10.10.2016