Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt

Die aserbaidschanisch-deutsche Autorin Olga Grjasnowa gehört mittlerweile unzweifelhaft zu den wichtigen Stimmen der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur. Irgendwie haben es ihre Bücher aber bisher nie in meine Hände geschafft. Mit Der Russe ist einer, der Birken liebt habe ich mir nun ihren Debütroman von 2012 vorgenommen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Und es hat sich gelohnt.

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt

Der Russe ist einer, der Birken liebt ist ein Roman, der sich nur schlecht zusammenfassen lässt. Die Handlung ist trotz der gerade mal gut 280 Seiten weit ausgreifend, in geographischer, geschichtlicher wie emotionaler Weise. Wir folgen den Schilderungen der Ich-Erzählerin eigentlich nur von Frankfurt nach Israel und wieder zurück, doch die Wege, die aus der Gegenwart in die Vergangenheit führen, sind weit verzweigt.

Eine kurze Zusammenfassung versuche ich aber doch, damit sich alle potenziellen Leser*innen zumindest ein grobes Bild von der erzählten Geschichte machen können. Maria Kogan ist die Protagonistin in Der Russe ist einer, der Birken liebt. Der Anfang des Romans handelt vor allem von ihrer Beziehung zu Elias, dessen Verletzung nach einem Unfall und seinem Tod. Allein dieser erste Teil wäre schon eine kleine Erzählung für sich. So stark zeichnet Olga Grjasnowa die Emotionen, mit denen Maria in dieser Zeit zu kämpfen hat. In einer manchmal erbarmungslos kühlen Sprache schafft es die Autorin, das Schicksal von Elias und das daran gekettete von Maria darzustellen.

Elias sah mich verstört an, und ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Nun war es mit der Leichtigkeit zwischen uns vorbei, ich drehte mich zum Fenster und öffnete es. Tränen schossen mir in die Augen. Ich hätte nichts sagen sollen, ich hatte Elias bisher noch nie gedroht, ich hatte ihm gegenüber nie Macht ausgespielt und hatte gehofft, dass es in unserer Beziehung niemals dazu kommen würde. Aber nun hatte ich selber damit angefangen.

Praktisch ohne Pathos erzählt sie von der Schwierigkeit, mit einer geliebten Person umzugehen, die körperlich schwer verletzt wird und daran auch geistig immer mehr zugrunde geht. Von der Unmöglichkeit, zu helfen. Von den Selbstvorwürfen, die auf den Tod der geliebten Person unweigerlich folgen, und der ewig erscheinenden Trauer. Wie gesagt, dieser erste Teil der Handlung könnte schon für sich stehen. Aber der Roman hält noch viel mehr bereit.

Denn Maria ist in Baku, Aserbaidschan, geboren. Ihre Familie ist jüdisch, weshalb sie im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien um das Bergkarabach-Gebiet Anfang der 1990er-Jahre zu einer höchst bedrohten Minderheit zählt. Ethnische Säuberungen verschiedener Banden und aufgestachelter Nationalisten erschüttern die Gegend. Auch Baku ist betroffen, die Stimmung gegen alle Fremden wird immer stärker, während der Konflikt sich nach dem Ende der Sowjetunion zu einem Bürgerkrieg auswächst. Auch Juden gehören schnell zu den verhassten Fremden. So flieht die Familie Kogan nach Deutschland.

Schon im ersten Teil flechtet Grjasnowa immer wieder Rückblenden ein, die die Familiengeschichte und ihre eigene, noch recht kurze Lebensgeschichte immer weiter auffächern. Immer wieder erinnert sie Szenen aus der Vergangenheit in Baku, von ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Großeltern. Um diese Szenen dann mit der Gegenwart zu konfrontieren. Hat ihre Mutter die Auswanderung äußerlich gut weggesteckt, ist ihr Vater ein gebrochener Mann, der an nichts mehr glaubt. Am wenigsten an sich.

Als Maria von ihrer Trauer immer mehr vereinnahmt wird, beschließt sie, sich auf die mehr oder weniger erstbeste Stelle in Israel zu bewerben und dort bei einer NGO zu arbeiten. Israel, das Land, in dem auch einige ihrer Verwandten auswanderten, die sie nun wieder besuchen kann. Israel, eine vage Hoffnung auf ein besseres Leben, ein Hingehören nach dem Verlust ihres ganzen Halts in Deutschland.

Doch die Hoffnung erweist sich als zu kurz gedacht, zu gewollt. Die Einsamkeit in Tel Aviv setzt ihr zu, ihr Job ist ihr unangenehm, sie driftet immer weiter in eine lähmende Depressivität ab. Nur manische Ausbrüche halten sie noch auf den Beinen, und ein paar Bekanntschaften.

Ich hatte keine Kontrolle mehr. Nicht einmal mehr über meinen eigenen Körper. Ich ließ Daniel allein am Tisch sitzen, ging nach Hause und goss mir ein Glas Wodka ein. Sobald der Alkohol anfing, mich von innen zu wärmen, stellte ich mich unter die Dusche, wusch mit dem kalten Wasserstrahl die Wärme von meiner Haut, wickelte mich in ein Handtuch und trank noch ein Glas.

Beeindruckt hat mich an Der Russe ist einer, der Birken liebt zunächst die schon genannte Sprachgewalt, die sich aus einfachen, aber immer wieder ins Schwarze treffenden Sätzen erhebt. Olga Grjasnowa schafft es mit ihrem entwaffnenden, geraden Stil eine ehrliche Emotionalität und mit dieser einen Sog zu entfachen, den keine tausend Adjektive je hinbekommen könnten. Nicht dass sie keine Adjektive benutzen würde – aber eben nur gerade so viele, dass sie ihre Kraft komplett entfalten können.

Doch da ist noch so viel mehr in diesem kleinen Buch. Die Familiengeschichte der jüdischen Auswanderer aus Aserbaidschan ist ein ergreifendes kleines Stück Zeitgeschichte. Es beschreibt diesen mir bislang unbekannten Konflikt unprätentiös und bettet diesen Strang unaufdringlich, aber auch unverzichtbar in den Roman ein. Dann Israel als Hoffnung vieler jüdischer Menschen. Ein Land jedoch, dass alles andere als himmlisch, sondern auch von Konflikten, inneren wie äußeren, höchst belastet ist.

Und trotz all dieser negativen Aspekte strahlt der Roman doch, heute gelesen, eine positive Kraft aus, die eher untergründig in ihm glüht. Er ist ja noch nicht alt, 2012 erschien die Erstausgabe bei Hanser. Aber fünf Jahre erscheinen im aktuellen politischen Geschehen schon lang. Und gerade bei den Auseinandersetzungen um Flüchtlingsströme, Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit, die sich auf der Oberfläche zwar etwas beruhigt haben, untergründig aber weiter schwelen, sind die Gräben meiner Meinung nach tiefer denn je.

Gerade hier glänzt Der Russe ist einer, der Birken liebt. Der Roman zeichnet en passant das Bild einer Gesellschaft, in der Menschen aus den entlegensten Winkeln der Welt zusammenkommen und -leben. Und es gibt Konflikte, es gibt Probleme, überall. Die unterschiedliche Herkunft der Personen ist dabei kein unwichtiger Faktor, ganz im Gegenteil. Immer wieder ist es gerade die familiäre Herkunft, die Konflikte heraufbeschwört. Aber die Konflikte enden nicht an dieser Stelle, sie laufen nicht vor eine ethnische Wand, sondern werden zwischen den Personen ausgetragen und – mal mehr, mal weniger – gelöst.

Grjasnowa kreiert damit meiner Meinung nach das realistische Bild einer multikulturellen Gesellschaft, die sich aneinander abarbeitet und dadurch zusammenwächst. Das erzeugt zwischen den Zeilen einen Schein der Hoffnung – auch wenn dieser Schein einfach nicht auf Maria abfärben möchte.

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt CoverOlga Grjasnowa

Der Russe ist einer, der Birken liebt

dtv

284 Seiten | 9,90 €

Erschienen 2014

(Originalausgabe 2012 bei Hanser)

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