Sechs Koffer: Das sind vier Brüder, zwei Ehefrauen, sechs Kapitel zwischen Prag, Moskau, Berlin, Zürich und Hamburg, von 1965 bis 2016. Und das alles auf gerade mal 200 Seiten – geht das überhaupt? Maxim Biller zeigt in Sechs Koffer (KiWi), dass das geht, und verdient sich damit einen Patz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018.
Schauen wir uns die Titel der Shortlist 2018 nebeneinander im Regal an, dann dominieren vier Romane mit durchaus stolzen Umfängen das Bild. Mit Ausnahme von Susanne Röckels Der Vogelgott behandeln alle dezidiert historische Stoffe, jeder Roman in seiner ganz eigenen Weise, aber immer mit der Tendenz dazu, sich Zeit zu nehmen und den historischen Bogen ordentlich aufzuspannen. Nun möchte ich den vier dicken Romanen auf der Liste die Dichte ihrer Stoffe nicht absprechen. Das wäre zumindest bei Thome und Mahlke, die ich bereits gelesen habe, absurd, bei den beiden anderen legen die vorliegenden Rezensionen ähnliches nahe. Aber die Kunst, Stoffe zu verdichten und auf wenigen Seiten große Bögen zu schlagen, ohne dabei unterkomplex zu sein, steht nur bei zwei von sechs Büchern überhaupt zur Debatte.
Meiner Meinung nach meistert Maxim Biller dieses Kunststück in Sechs Koffer, ohne dass die Leser*innen es unbedingt mitbekommen. Mit großer, wenn auch durchaus eigener Leichtigkeit führt uns der Ich-Erzähler durch seine Familiengeschichte. Über allem schwebt dabei die Frage, wer Schuld an der Verhaftung und Hinrichtung des »Taten« Schmil Biller, Großvaters des Erzählers und Vater der vier Brüder Lev, Wladimir, Sjoma und Dima, hat. Die Spanne von gut 50 Jahren, die der Roman dabei abdeckt, legt aber schon nahe, dass es hier nicht um Spannung geht, nicht eigentlich um Aufklärung – Sechs Koffer ist kein Krimi. Es geht vielmehr um die Geschichte einer Familie, die vom Tod des Großvaters gesprengt wird, um sich dann über Jahrzehnte hinweg ganz langsam und in teils witzigen, teils tragischen Episoden wieder anzunähern.
Die sechs Kapitel schreiten chronologisch voran. Der Erzähler beginnt in den 1960er Jahren in Prag, als er selbst noch ein kleiner Junge ist. Im Stile eines Memoirs schweift er jedoch gerne durch die Jahre und unterbricht die auktorial erzählten Episoden seiner Verwandten durch eigene Gedanken. Anmerkungen, Spekulationen oder Seitenhiebe. Es erfordert durchaus ein wenig Aufmerksamkeit, hier am Ball zu bleiben. So wendet sich der Fokus mal dem Onkel Dima im Zürich der 1970er-Jahre zu, folgt Tante Natalia sprunghaft durch die halbe Welt und linst mit Onkel Lev durch die Löcher des Eisernen Vorhangs.
Sechs Koffer ist auch und vor allem ein Roman des Kalten Krieges. Wir springen mit dem Erzähler und seinen Familienangehörigen durch die verschiedenen Etappen, durch verschiedene Länder und Städte sowie durch den Eisernen Vorhang selbst. Überhaupt wird das Schicksal der Familie Biller von den Gegebenheiten der in Ost und West geteilten Welt nicht nur bis 1990 entscheidend bestimmt. Die Geschehnisse – und Spekulationen über mögliche Geschehnisse – in der Sowjetunion prägen das Leben aller Familienangehörigen weit über deren historisches Bestehen hinaus: Emigration bzw. Flucht in den Westen, Denunziationen, Hinrichtungen, Verschwundene, Gefängnisaufenthalte, Verschwörungen, Geheimdienstaktionen, Bestechungen, Schmuggel und das große Quid-pro-Quo der Planwirtschaft im Allgemeinen sind eine unvollständige Liste.
Sechs Koffer zeichnet damit auf leichte, episodenhafte und nie bemüht wirkende Art ein hingetupftes, kleines Bild eines Familienschicksals im Kalten Krieg und seinen Nachwehen bis heute. Nicht zu vergessen, dass es sich um ein jüdisches Familienschicksal handelt – aber das dürfte wohl für niemanden eine Überraschung sein. Der Ton des Erzählers ist nie pathetisch, dafür meist leicht ironisch, leicht lakonisch, gerade wenn er sich selbst in jüngeren Jahren durchaus schonungslos beschreibt. Das ist liebenswert und bisweilen komisch, genau wie die liebevollen Schilderungen aller anderen Personen auch. Als kleines Beispiel hier die kurze Szene eines der ersten Interviews des Erzählers:
Aber als sie mich fragte, warum ich eigentlich so viel und so hart über meine Familie schrieb, verschwand meine Anfängernervosität sofort. Ich richtete mich auf, ich strich mir über meine breite, bunte, wildgemusterte Krawatte, ich knöpfte langsam den mittleren Knopf meines riesigen, hellen, teuren Jacketts zu und sagte mit einem fast schon lächerlich eingebildeten Grinsen: »Weil ich keine Geheimnisse mag.«
Der Ausschnitt zeigt auch schön die Sprache des Romans, die sich auf der einen Seite verknappt und auf der anderen dafür großzügig hinzugibt. Gemeint ist das häufige Einsparen von Füllwörtern oder Konjunktionen, wie dem »und« nach den Adjektivreihungen im Zitat, bei einem gleichzeitigen Überangebot von ebendiesen Adjektiven. Für mich ebenso eigen wie gut, der Stil transportiert die mäandernden Episoden wunderbar und macht Spaß.
Sechs Koffer von Maxim Biller ist ein wunderbarer, »kleiner« Roman, der sich vor den »großen« auf der Shortlist nicht zu verstecken braucht. Er punktet vor allem durch Originalität in Sprache und Erzählweise, durch Stimmung und Zeitkolorit in episodischer Verdichtung. Muss man dabei die autobiographischen Aspekte überhaupt erwähnen? Ich glaube nicht, der Roman steht für sich. Auch wenn es mich schon sehr interessieren würde, ob schon jemand den Roman von Billers Schwester über das gleiche Thema gelesen hat, In welcher Sprache träume ich? Die Geschichte meiner Familie (KiWi 2016) von Elena Lappin?
Kiepenheuer & Witsch
208 Seiten | 19 Euro
Erschienen am 8.8.2018
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