Auf dem Cover schillern die Buchstaben in allen Regenbogenfarben, im Inneren schillert der Inhalt mit ihnen um die Wette. Was ist das? Eine begründete Frage an Johanna Maxls Debütroman Unser großes Album elektrischer Tage (Matthes & Seitz). Meine Antwort: einfach großartig.
Was ist an Literatur eigentlich greifbar? Ein Plot, den man verorten kann, historische Personen, die darin auftauchen. Objekte, Straßen, Häuser, vielleicht auch Redewendungen, Mode, Bezeichnungen. Das alles gibt uns als Leser*innen Anhaltspunkte, wo und wann wir den Inhalt eines Buchs einordnen können. Manchmal kommen wir über die Form auch zumindest dahin, sagen zu können, wann ein Buch geschrieben wurde, wenn sich der Inhalt der Einordnung entzieht.
Mit Zweiterem können wir dem Debütroman von Johanna Maxl noch einigermaßen beikommen, lässt er sich doch wunderbar neben Bücher von Jörg Albrecht (Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif), Jakob Nolte (ALFF ebenso wie Schreckliche Gewalten) oder Teresa Präauers Für den Herrscher aus Übersee stellen. Alle Romane sind dem Spiel verfallen. Sie zeichnen sich durch die ungebremste Lust aus, mit allem hemmungslos zu jonglieren, was Leser*innen an Erwartungen und Erfahrungen an einen Roman so herantragen. Plot, Sprache, Struktur – war da was? Wer gelegentlich diesen Blog liest, weiß schon jetzt, dass das absolut nach meinem Geschmack ist.
Bleibt die Frage: Was ist das? Dem sind wir mit dem Vergleich noch nicht wirklich näher gekommen, außer dass wir hier einen erfrischend spielerischen Umgang mit den Elementen der Literatur erwarten dürfen. Tatsächlich ist der Inhalt von Unser großes Album elektrischer Tage wie ein nasser Aal, der immer wieder wegflutscht, wenn man denkt, ihn nun zu haben. Am besten, wir lassen den Text selbst ein klein wenig sprechen:
Wir gehen schon viel zu lange diese Straße entlang.
Wenn wir nur wüssten, wie diese Geschichte ausgeht!
Wenn wir nur wüssten, dass es ein Ende gibt.
Wenn wir wüssten, dass wir sie finden, Johanna, dass wir es schaffen werden, durch all diese antwortlosen Fragen hindurch, könnten wir aufrecht, stolz und voller Zutrauen diese Straße diese Jahre entlanggehen. Wir könnten den Schmerz in unseren rastlosen Füßen besser ertragen. Wir könnten unsere entzündeten Augen leichter offen halten. Wir würden uns öfter die Haare waschen, weil wir wüssten, dass wir ihr jederzeit begegnen können.
Unser Album elektrischer Tage wird aus der Wir-Form erzählt, was erst mal ungewöhnlich ist. Hinter dem Wir versteckt sich eine Gruppe, die kaum definierbar ist. Es scheint aber, dass es sich um Kinder handelt, wenn auch das Alter unklar bleibt oder sich ändert. Der Bezugspunkt der Gruppe ist dagegen klar: Johanna. Ist sie ihre Mutter? Irgendwie ja, irgendwie aber auch wieder nicht. In jedem Fall ist sie weg, und die Kinder spüren ihr nach. In ihren Erinnerungen, in ihrer Fantasie, und manchmal vielleicht auch in der Gegenwart des Erzählens.
Die Welt des Romans ist dunkel. Er spielt in den Slums Europas, Hinweise auf die Außenwelt sind rar gesät, sodass es schwer ist, diese näher zu definieren. Aber es scheint, dass der koloniale Vorsprung Europas hier aufgebraucht ist, dass die Realität des Großteils der Welt auch in Europa Einzug gehalten hat. Oder ist dies gar die Angstwelt der Wutbürger, der Untergang des Abendlandes, in den wir hier einen kleinen Einblick erhalten? Schwer zu sagen, aber definitiv denkbar.
Denn Unser großes Album elektrischer Tage changiert, schillert, windet und entzieht sich, und ist doch trotz aller Stacheligkeit in Form und Inhalt wunderbar verletzlich und offen. Die Sprache schlägt Kapriolen, dass es eine wahre Freude ist. Dies verkommt dabei nicht zum Selbstzweck, sondern treibt voran, was man klassischerweise Handlung nennen würde. Hier ist diese Handlung mehr wie ein Universum aus Dingen, Eindrücken, Phantasien, Erinnerungen und Wünschen der Kinder, das immer weiter ausgreift und angereichert wird mit jedem kleinen Kapitel.
Der Debütroman von Johanna Maxl ist ein Lese-Erlebnis, das in diesem Jahr keine Entsprechung hat. Er hat mich von Anfang bis Ende fasziniert und in seinen rätselhaften Bann geschlagen. Definitiv eine Entdeckung und mein Highlight 2018.
Unser großes Album elektrischer Tage*
Matthes & Seitz Berlin
200 Seiten | 20 Euro
Erschienen im Oktober 2018
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Oh, wow! Das Buch schlummert auch noch in meinem Regal, scheint, als müsste ich es wecken gehen!
Auf jeden Fall wecken, es hat mich richtig verzaubert!