Meine Reihe zu Sachbüchern über Flucht und Migration geht in die zweite Runde. Analysen stehen im Vordergrund, die ich mir komplett von der Bundeszentrale für politische Bildung besorgt habe. Herausgekommen ist ein kleiner Grundkurs mit Erweiterung.
Wer erinnert sich noch an das Warm-up zu meiner kleinen Serie über Sachbücher zu Flucht und Migration? Ja, es ist schon eine ganze Weile her, dass ich den Auftaktbeitrag gepostet habe, Mitte August war es. Wer den Beitrag nicht nochmal lesen möchte, hier die Minimalversion zur Erinnerung: Ich war durch die mediale Omnipräsenz und die politische Agonie bzw. Hysterie beim Thema Flucht und Migration derart abgestumpft, dass ich mir eine Lesekur verschrieben habe, die ich hier dokumentiere. Das Ziel ist zum einen eine Re-Sensibilisierung meiner selbst und zum anderen, Sachbuch-Empfehlungen zum Thema zu geben.
Drei Monate sind seit dem letzten Post ins Land gegangen und es hat sich nicht allzu viel geändert. Nach wie vor geht die Schere zwischen dem, was bei Flucht und Migration nach Europa wirklich noch passiert, und dem, was in Medien und Politik daraus gemacht wird, soweit auseinander, wie es nur irgendwie geht. Durch die mittlerweile praktisch komplette Abschottung Europas auf Land wie zu Wasser kommen kaum noch Geflüchtete auf das europäische Festland. Sie sitzen zu großen Teilen in der Türkei und Libyen fest und schlagen sich meist ohne Hilfe irgendwie durch, viele schaffen dies aber nicht mehr. Gerade in Libyen sind die Zustände katastrophal.
Anstatt sich aber nun um die Geflüchtete außerhalb Europas zu kümmern, igeln sich die EU-Staaten ein, debattieren über noch strengere Ausländer- und Flüchtlingsgesetze und überlassen die an den Außengrenzen abprallenden Menschen ihrem Schicksal. Gerade hat Jens Spahn das Thema Geflüchtete zum Aufhänger für seinen Wahlkampf um die Parteiführung der CDU auserkoren. Na herzlichen Glückwunsch, das riecht nach noch mehr Abschottung und maximal mehr Scheckbuchpolitik, wenn es um die Verhinderung von Fluchtgründen geht. Ein ausgewogeneres Bild von Geflüchteten in der breiten Wahrnehmung darf man sich wohl nicht versprechen, und dass die AfD mittlerweile in allen Länderparlamenten sitzt, wird auch niemandem helfen.
So weit, so deprimierend. Grundsätzlich hat sich nichts verändert. Doch zum Glück gibt es Bücher, die sich auf differenzierte Weise mit dem Themenkomplex Flucht und Migration auseinandersetzen und damit der undifferenzierten Behandlung durch Politik und Medien entgegenwirken können. Ich habe in den letzten Monaten zwei Grundlagenwerke mit unterschiedlichem Schwerpunkt und eine in den Essay übergehende Analyse gelesen. Um es vorweg zu nehmen: Die detaillierte Auseinandersetzung hat mir überaus gut getan!
Zunächst zu den Grundlagenwerken, deren Titel schon ziemlich eindeutig verraten, was die Leser*innen erwartet. Flucht nach Europa. Ursachen, Konflikte, Folgen von Stefan Luft konzentriert sich auf Europa und macht dabei kleine Exkurse nach Deutschland. Dies ist absolut gerechtfertigt, da Deutschland immer wieder eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der europäischen Flüchtlingspolitik eingenommen hat. Vor der historischen Aufarbeitung gibt es aber noch einen kleinen Grundkurs zur Migrationsforschung, den ich sehr informativ und kurzweilig fand. In seinen Analysen ist das Buch ganz der Realpolitik und dem Staatsrecht verpflichtet, was stellenweise ernüchternd bis schmerzhaft sein kann. Gerade im linken Diskurs sind diese Sichtweisen alles andere als populär. Humanitäre Gesichtspunkte blendet der Autor aber nicht aus, sodass hier am Ende gerecht in beide Richtungen ausgeteilt wird. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind (was aber auch verrückt wäre): Empfehlenswert!
Stefan Luft: Flucht nach Europa. Ursachen, Konflikte, Folgen | 128 Seiten | 4,50 Euro | 07/2016
Globale Migration. Geschichte und Gegenwart von Jochen Oltmer wendet sich der weltweiten Migration in all ihren Formen seit etwa dem Mittelalter zu. Es ist wirklich faszinierend zu lesen, wie Kriege, Politik und Wirtschaft in den letzten 500 Jahren immer wieder teils riesige Migrationsbewegungen erzeugt und Bevölkerungsstrukturen deutlich verändert haben. Im letzten Teil geht der Autor gesondert auf die aktuellen Herausforderungen der Migration ein – und damit auch der Fluchtbewegungen. Er rückt dabei sehr schön die europäische Fehlwahrnehmung gerade, dass ein Exodus auf Europa im Gange sei, während 90% der aus Syrien Geflüchteten, also etwa neun Millionen Menschen, in Syriens Nachbarländern ausharren. Oltmer schafft es damit, die aktuelle Lage wieder in eine historische Perspektive zu rücken und den eigentlichen Brennpunkt fernab von Europa zu benennen. Auch eine Empfehlung.
Jochen Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart | 144 Seiten | 4,50 Euro | 03/2017
Einen etwas anderen Ansatz wählen Alexander Betts und Paul Collier in ihrem Buch Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. Der Titel weist unverkennbar darauf hin, dass es sich hier um eine (etwas schludrig redigierte) Übersetzung aus dem Englischen handelt. Dementsprechend anders, eben anglo-amerikanisch ist der Stil, und damit deutlich ausführlicher und erklärender. Der Ansatz der beiden Autoren ist ein ethischer, der die Gesamtsituation der Geflüchteten eines Konflikts – Beispiel ist hier meist Syrien – bewertet und die Chancengerechtigkeit unter allen Geflüchteten bewertet.
Sie haben zwei Hauptkritikpunkte am gegenwärtigen System. Der erste ist das humanitäre Verwalten der meisten Geflüchteten in einem entmündigenden Lagersystem ohne Arbeitserlaubnisse, welches die Menschen nicht nur aus ihren Lebenszusammenhängen, sondern auch aus ihrer Selbstständigkeit herausreißt und dadurch in einen permanenten Zustand der Lethargie versetzt. Kein Wunder, dass viele dem System entfliehen und auf eigene Faust ihr Glück suchen. Hier setzt der zweite Kritikpunkt an. Nämlich dass diejenigen Geflüchteten, die es sich leisten können, die gefährliche Reise in westliche Industrieländer antreten, welche wiederum damit vollkommen überfordert sind. Nicht nur werden als Reaktion auf diese Überforderung Gelder von den wichtigsten Stellen – nämlich der Versorgung von meist etwa 90% der Geflüchteten in der Nähe des Krisengebiets – abgezogen und die Anreize zur gefährlichen Weiterreise noch erhöht, es werden auch die bestgebildeten Menschen aus der Population des Krisengebiets entfernt. Ein brain drain, der die Krisenländer in der Phase eines Wiederaufbaus meist teuer zu stehen kommt, da die meisten, die es in den Westen schaffen, nicht zurückkommen werden. Ein sehr gut argumentiertes, ausführliches Buch, mit guter Analyse und klarer Agenda. Leider war es wohl ein Schnellschuss, was das Lesen immer wieder ins Stocken bringt. Insgesamt aber eine absolute Bereicherung.
Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. | Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz | 336 Seiten | 4,50 Euro | 04/2018
Am Ende kann ich festhalten, dass mich die eingehendere, zunächst grundlegende Beschäftigung mit dem Thema Flucht und Migration schon ein wenig re-sensibilisieren konnte. Allerdings sind Grundlagenwerke und Analysen ja oft eine zwar nötige, aber auch nötigerweise trockene Angelegenheit. Jetzt freue ich mich umso mehr darauf, Essays zum Thema zu lesen. Das Feld wird sich wohl auch ein klein wenig erweitern, da in letzter Zeit noch interessante Bände erschienen sind.
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