Max Czollek: Desintegriert euch!

Jüdinnen und Juden sind aus dem deutschen Alltag weitestgehend verschwunden, kaum ein Normalo kennt welche persönlich, vielleicht weiß man gerade noch, wo in den Großstädten eine Synagoge ist. Warum eigentlich? Max Czollek ruft den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden in seiner gleichnamigen Streitschrift zu: Desintegriert euch!

Max Czollek: Desintegriert euch!

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Jüdinnen und Juden in Deutschland so ziemlich von der Bildfläche verschwunden. Klar, der Zentralrat der Juden wird immer mal wieder gefragt, wenn es Dinge zu verhandeln gilt, die in irgendeiner Weise den oder das Gedenken an den Holocaust berühren. Aber sonst? Wenig, sehr wenig.

Dabei leben viele Jüdinnen und Juden in Deutschland, und sie werden seit den 1950er Jahren immer mehr. Aus allen Teilen der Welt kamen und kommen sie nach Deutschland. Manche kehren zurück, manche kommen aus ganz anderen Gründen. So wächst die jüdische Population in Deutschland wieder. Zwar langsam, aber beständig. Sichtbarkeit hat ihr das jedoch abseits des Holocaust-Gedenkens nicht beschert.

Max Czollek, selbst in Deutschland geborener und aufgewachsener Jude, setzt sich mit diesem Zusammenhang in seiner Streitschrift Desintegriert euch! auseinander. Seine Grundthese: Die Jüdinnen und Juden haben sich in Deutschland so tief in das ihnen auferlegte Bild des vergebenden, gnädigen Juden hineinbegeben, dass ihnen ein jüdisches Leben abseits des Phänotyps »Opfer & Vergeber« praktisch unmöglich wurde. Denn die Deutschen wollten in der Nachkriegszeit vor allem eins: Vergebung. Zumindest die paar wenigen, die sich eine Schuld während der Nazi-Zeit tatsächlich eingestanden.

Der Rest wollte nicht Vergebung, sondern mit Einsetzen der Aufarbeitung der NS-Verbrechen dann vielmehr gleich: Lob. Toll arbeitet ihr eure Vergangenheit auf! Super! Gerade aus dem Mund von Jüdinnen und Juden ist dies das allerhöchste Lob. Deshalb wurde ihnen in der Öffentlichkeit dann auch meist nicht mehr zugestanden als eben das: Verbrechen zu vergeben, Aufarbeitung zu loben.

Czollek macht dabei sehr schön klar, dass all dies auf deutscher Seite darauf ausgelegt ist, die Rolle der historischen Täter zu verdrehen. Durch Akzeptanz durch die Juden und Überidentifikation mit wie auch Aneignung von deren historischem Schicksal werden aus Tätern in der Eigenwahrnehmung langsam aber sicher Opfer. Sie teilen ein Schicksal: Sie wurden von den bösen Nazis unterdrückt und gezwungen, unvorstellbare Verbrechen zu begehen.

Czolleks Lösung: Brecht aus! Hört auf, in der Mär der vergebenden Juden mitzuspielen! Desintegriert euch! Seid wütend, seid sauer, habt Rachefantasien! Klingt rabiat, ist es auch, und will es auch sein. Immerhin soll hier gestritten werden. Die eigene Identität aus den Fängen eines deutschen Selbstvergewisserungs- und Schulterklopfnarrativs zu befreien, kann nicht leise passieren. Bei Emanzipation muss es krachen, da bin ich voll bei Czollek.

Seiner bewusst provokanten Argumentation, die Säulenheilige der deutschen Kultur wie Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger oder auch Nora Gomringer zu Agenten des Täter-zu-Opfern-Narrativs macht, muss man dabei nicht in jedem Detail folgen. Natürlich ist hier viel zugespitzt, wie etwa auch die Forderung nach einer jüdisch-muslimischen Leitkultur. Umso deutlicher kann er aber seinen Punkt machen, nämlich dass jüdisches Leben in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg komplett von diesem Narrativ vereinnahmt und funktionalisiert wurde. Und dass im Umkehrschluss ein mutiger Multikulturalismus der einzige Ausweg ist, unser aller Seelenheil zu erhalten.

Offensichtlich ist eine breitflächige Allianz zwischen der jüdischen und der muslimischen Bevölkerung gegenwärtig nicht sehr wahrscheinlich. Einerseits behindern Antisemitismus und Islamophobie die Zusammenarbeit. Andererseits möchten die Juden und Jüdinnen derzeit gerne glauben, dass sie nicht noch einmal Opfer einer Verfolgung durch die deutsche Politik werden. Ich denke, dass das eine Täuschung ist. Beim nächsten Mal brennen vielleicht zuerst die Moscheen. Aber dann brennen auch wieder die Synagogen. Ich mache mir da keine Illusionen.

Max Czolleks Streitschrift Desintegriert euch! provoziert auf ebenso intelligente wie erfrischende Weise das deutsche Selbstbild der Nachkriegszeit. Es hat sich immer weiter vom Volk der Täter zu einem der Opfer gewandelt, indem es sich das Schicksal der Juden (das sie selbst verursacht bzw. unterstützt haben) angeeignet hat. Aber auch die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden kriegen ihr Fett weg, da sie willentlich an der Herausbildung dieses Selbstbilds mitwirkten. All dem zeigt der Autor nun die rote Karte. Richtig so!

Max Czollek: Desintegriert euch!

Max Czollek

Desintegriert euch! *

Hanser

208 Seiten | 18 Euro

Erschienen im August 2018


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Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Habe das Buch grad ausgelesen … und nun lese ich, dass ich gar nicht zur Zielgruppe gehöre, weil ich Deutsche bin?
    Ich habe das „Desintegriert euch!“ als Aufforderung an ALLE verstanden.
    Das einzig Vernünftige, vor allem, falls wir so etwas wie eine erneute „Gleichschaltung“ erleben sollten.
    Wehret den Anfängen!

    • Natürlich geht der Aufruf an alle Leser*innen raus! Auch nicht-jüdische Deutsche spielen ja mit im Erinnerungstheater, wie Czollek es beschreibt, genauso andere weniger privilegierte Gruppen wie Geflüchtete und Zugewanderte. Für mich liegen ihm die Jüdinnen und Juden in Deutschland nur besonders am Herzen, da es gerade dort etwas an Mut zur Emanzipation zu fehlen scheint.

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