Yishai Sarid: Monster

Das Monster der Generationen nach dem Holocaust ist die Erinnerung an etwas, das man nicht selbst erlebt hat. Yishai Sarid behandelt in seinem neuen Roman Monster (Kein & Aber) die Abgründe dieser Erinnerungsarbeit.

Yishai Sarid: Monster

Titel und Covergestaltung gehen ja gerne Hand in Hand. Monster von Yishai Sarid überrascht mit einer in Anbetracht des Titels sehr schlichten Lösung, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Dann macht sie aber umso mehr Sinn.

Nachdem ich den Roman gelesen hatte, starrten mich die beiden Gleise, die die Tötungsmaschinerie der nationalsozialistischen Konzentrationslager symbolisieren, geradezu monströs an. Auch wenn dort – wie am bekanntesten in Auschwitz-Birkenau, aber genauso in allen anderen Vernichtungslagern – meist nur ein Gleis endete, wurde hier in die beiden möglichen Richtungen getrennt: Leben (bis auf weiteres zumindest) oder sofortiger Tod.

Die zweite Option, Tod bzw. Vernichtung, ist das Fachgebiet des namenlosen Protagonisten von Monster. Er ist Historiker und hat sich in seiner Arbeit auf die Systematik der Vernichtung konzentriert. Er findet heraus, dass alle Vernichtungslager dem gleichen Aufbau folgen, dem maschinellen Tod ein System zugrunde liegt, das bis ins Kleinste durchdacht ist. Die Logistik ist selbst mit psychologischen Raffinessen ausgestattet, um etwa eine Massenpanik vor den fest verschließbaren Türen der Gaskammern zu verhindern.

Doch das Historiker-Leben zahlt nicht von selbst die Rechnungen, gerade nicht, wenn gerade ein kleiner Sohn geboren wurde. Der Protagonist verdient den Großteil seines Gelds mit Führungen in den Vernichtungslagern in Polen. Immer wieder begleitet er Schulklassen durch die Orte des Todes, führt Gespräche mit Ihnen, hält die immer gleichen Vorträge. Kann man im Angesicht des größten Grauens abstumpfen?

So einfach ist es nicht. Eher beschleicht ihn ein immer größerer Ekel über die Formen der Trauerarbeit, der Erinnerung, wie die Schulklassen, aber auch andere Gruppen sie an den Tag legen. Das Monster dieser Erinnerungsarbeit in Schach zu halten, die eigene Psyche nicht zu sehr in den Sumpf hinabsinken zu lassen – all das gelingt ihm zunehmend schlechter, bis der Geduldsfaden immer spröder wird.

Ich breitete die Arme aus und sagte, Menschen seien zu allem fähig, vor allem zum Morden. Sie stützten sich auf eine Ideologie oder eine Religion, in den letzten Jahrhunderten liefe es gut mit dem Nationalismus, aber im Grunde sähen sie einfach gern die Kinder anderer Leute sterben. Auch wir haben, laut der hebräischen Bibel, Frauen und Kinder ermordet, auf ausdrückliche Anweisung Gottes, erinnerte ich die Gruppe. Ich weiß nicht, warum ich das angeschnitten habe, es war zweifellos ein schwerer Fehler.

Monster ist ein Brief des Protagonisten an den Vorsitzenden von Yad Vashem, der zentralen Institution der Erinnerung und Forschung zum Holocaust. Und sein letzter Arbeitgeber. Minutiös zeichnet der Erzähler nach, wie sich seine geistige Gesundheit immer weiter verschlechtert, er ausfällig seinen Gruppen gegenüber wird, auch wunderlich. Beschwerden häufen sich, er hält sich an seiner kleinen Familie fest, die er allerdings praktisch nie sieht.

Immer weiter zehrt das Monster an ihm, immer weiter zieht es ihn in Mitleidenschaft. Aber er ist nicht der Einzige. Denn die Industrie, die sich rund um das Gedenken an den Holocaust entwickelt, trägt immer kuriosere Früchte. So hilft er, ein in Auschwitz spielendes Computerspiel zu entwickeln, plant eine Truppenübung in einem ehemaligen Konzentrationslager, Filme, Symbolveranstaltungen. Doch am Ende scheint es immer vor allem um dies zu gehen: Symbole. Leere Gesten, die erwartet werden.

Yishai Sarid hat mich mit Monster wirklich gefesselt. Es ist in gleicher Weise schockierend wie faszinierend, in die Welt der Erinnerungsarbeit einzutauchen, sowohl im Kopf des Protagonisten als auch in Gestalt der Jobs, die er macht. Er stellt mit Monster auf eindringliche Weise die Frage, wie Erinnerungsarbeit für unsere und die kommenden Generationen aussehen kann und muss, ohne zu hohlen Gesten zu verkommen oder gar eine falsche Faszination auszulösen. Wie kann das laute »Nie wieder!«, das heute noch selbstverständlich ist, seine Direktheit behalten? Immerhin bröckelt die Selbstverständlichkeit im Angesicht des weltweiten Rechtsrucks zusehends. Ein absolut wichtiger Beitrag zur richtigen Zeit.

Yishai Sarid: Monster

Yishai Sarid

Monster *

Übersetzt von Ruth Achlama

Kein & Aber

176 Seiten | 21 Euro

Erschienen am 4.2.2019


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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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