Saša Stanišić: Herkunft

Wo komm ich her, wo geh ich hin? Die berühmten Kinderbuchfragen haben nichts an Aktualität verloren, ganz im Gegenteil. Saša Stanišić wirft in Herkunft (Luchterhand) einen Blick zurück auf seine Biographie und lotet aus, wie er da hinkam, wo er heute steht.

Saša Stanišić: Herkunft

Wo komm ich her, wo geh ich hin? Die Doppelfrage hat sich mir aus irgendeinem Schulbuch so direkt ins Gehirn gebrannt, dass sie wahrscheinlich nie wieder weggehen wird. Im Zeitalter der Globalisierung ist sie so aktuell wie vielleicht nie zuvor. Denn Mobilität ist Macht, oder wenn nicht gleich Macht, dann zumindest eine der Faktoren, um an solche zu gelangen. Und damit an Bildung, gute Jobs, gutes Gehalt, beeindruckende, horizonterweiternde (und klimaschädliche) Fernreisen usw. Die Reihe ließe sich ewig weiterführen.

Nun ist der Zusammenhang der beiden Fragen schlagend. Schauen wir mal auf die Rangliste der mächtigsten Pässe der Welt: Die deutsche Staatsbürgerschaft öffnet mir durch Zufall den Weg in 162 Länder dieser Erde, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Kommt jemand aus Afghanistan, sind es gerade mal 25. Und Deutschland ist ganz bestimmt nicht dabei.

Saša Stanišić nimmt die Kinderfragen in seinem aktuellen Buch Herkunft unter die autobiographische Lupe. Kein Roman dieses Mal. Es ist eine Mischung aus Memoir und Essay, wobei das Memoir deutlich überwiegt. Der Autor wirft den Blick zurück, erzählt von seinen Großeltern, seinen Eltern und Verwandten und der Gegend, in der seine Familie lange gelebt hat und zum Teil wieder lebt. Und warum viele dort nicht mehr leben. Gleichzeitig erzählt er seine Migrationsgeschichte und setzt sie immer wieder vorsichtig in Beziehung zu seinem Sohn, der mit deutschem Pass in Hamburg geboren wurde.

In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. Das gibt dann vorzügliche Sprachreisen, Alterswohnsitze in Florida und Auswanderinnen in die Dominikanische Republik zu besser aussehenden Männern.

Stanišićs unemotionaler Ansatz der Herkunft im Allgemeinen gegenüber ist eine Wohltat. Er umschifft den unsäglichen Heimat-Begriff gekonnt, ohne auch nur einen Blick in die Richtung zu werfen, sondern nimmt die volle Kontingenz von Herkunft und Biographie an, um von diesem Punkt aus seine Geschichte und die seiner Verwandten zu erzählen. Man erfährt dabei einiges über die Geschichte Jugoslawiens und der beiden Kriege, die den Völkerverbund am Ende auflösten und weiter erschütterten. Über die serbo-kroatische Provinz und deren Menschen. Aber auch über Flüchtlingsunterkünfte der 1990er-Jahre, deutsche Schule ohne Deutschkenntnisse und eine Aral-Tankstelle als einziges Jugendzentrum weit und breit.

Wer Stanišićs Bücher kennt und liebt wie ich, der bekommt dabei gewohnt schön erzählte Anekdoten, Charakterstudien und kleine Geschichten präsentiert. Wie immer ist sein Blick voller Liebe für seine Figuren, durchstrahlt eine Wärme selbst die düstersten Kapitel, die ihm so schnell und vor allem auch so pathosfrei niemand nachmacht. Eigentlich. Denn in Herkunft ist die Nähe zur eigenen Biographie und speziell der eigenen Großmutter dann vielleicht doch ein wenig zu groß, sodass es manchmal doch etwas sehr rührig wird.

Überhaupt hat für mich der biographische Teil, also das Memoir, etwas zu viel Raum eingenommen, was den essayistischen Part, der oben im Zitat anklingt, leider etwas zu kurz kommen lässt. Aber hier scheitert wohlgemerkt nur meine eigene Erwartungshaltung, das Buch positioniert sich selbst praktisch gar nicht, was die Angriffsfläche klein lässt.

Am Ende ist Herkunft ein etwas anderer Stanišić, aber doch wieder vollkommen das Original. Seine Literatur zeichnet eine grenzenlose Liebe zu den Menschen aus, die selbst Kriege und mörderische Migrationsregime nicht brechen können. Und davon brauchen wir so viel mehr, dass ich Herkunft trotz seiner kleinen Längen nur wärmstens empfehlen kann. Ein Blick zurück und nach vorn, ohne Beschönigungen, aber voller Wärme und Humor, voller Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Saša Stanišić: Herkunft

Saša Stanišić

Herkunft *

Luchterhand

368 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 18. März 2019


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Filed under Blog, Deutscher Buchpreis 2019, Rezensionen, Sachbuch

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

7 Comments

  1. Wunderbar, danke Stefan – das hat mich richtig neugierig gemacht!

    Da werde ich wohl am Montag tatsächlich durch Berlins momentanen Bilderbuchsommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose Zeit mit viel Muße zum Lesen
    Bianka

    • Danke, Bianka, freut mich riesig, dass ich dir eine gute Anregung geben konnte!

      Viel Spaß beim Lesen und liebe Grüße,
      Stefan

    • Bin ja bei Hörbüchern komplett raus, aber vielleicht muss ich dem doch mal eine Chance geben!

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