Es raschelt in den Zwischenwänden: Sebastian Guhr geht mit Die langen Arme (Kein & Aber) in die Keller einer DDR, die man so noch nie gelesen hat. Und die es so auch nicht gab, aber das ist eine andere Geschichte. Der Sieger des Blogbuster 2018.
Auch wenn der »Muff von 1000 Jahren« ein Slogan der Studentenbewegung im Westen Deutschlands war, hatte die DDR auch einiges davon zu bieten. Gerade in den Kleinstädten war Konformität das Mittel der Stunde, um ein erträgliches Leben in einem System zu haben, das Nonkonformität, jede Art von Anderssein, unerbittlich bestrafte. Durch staatliche Sanktionen auf der einen und soziale Abgrenzung auf der anderen Seite wurden enormer Druck auf die Bevölkerung ausgeübt. Druck, normal zu sein und zu funktionieren. Natürlich nicht genauso zu funktionieren wie im kapitalistischen Westen, aber doch zu funktionieren.
Antje und Yvette sind anders. In der DDR kein Geschenk, weder für die Schwestern selbst noch für den alleinerziehenden Vater der beiden. Auch wenn er die besonderen Interessen seiner Töchter ohne Vorbehalte schätzt, muss er doch den Schein der Normalität nach außen wahren. Kein einfaches Unterfangen, wenn die Kinder Instrumente bauen, die Stücke aus Geruch zu spielen in der Lage sind. So montieren sie konservierte Katzenköpfe auf eine Art riesigen Dudelsack und lassen sie geruchsvoll rülpsen. Sehet da: die Fleischblume.
Eigentlich war es kein Wunder, dass ich keine Freunde hatte. […] Wir demontierten die Fleischblume, so wie Vater es verlangt hatte, und da wir noch keinen anderen, dauerhaften Ort für sie gefunden hatten, konservierten wir die Katzenköpfe mit Haarlack und verstauten sie heimlich in Kartons auf dem Dachboden.
Dass dies auf der Oberfläche nicht lange gut gehen kann, ist klar. Die Gerüche kriechen durch die maroden Häuser wie das Klopfen des kalten Herzes bei Poe. Ein Glück, dass die Schwestern eine kleine Treppe im Haus entdecken, die in den Untergrund führt. Ein Tunnelsystem, das die gesamte Kleinstadt durchzieht und ihnen Zugang zu allen Häusern gewährt. Ist es Magie, dass jemand sonst die kleinen Treppchen sehen kann?
Sebastian Guhr öffnet in Die langen Arme den Untergrund der kleinstädtischen DDR. Er lässt uns an der Seite von Antje, die den Roman erzählt, von Haus zu Haus flitzen und hinter die vergilbten Vorhänge schauen. Lädt uns ein in eine fast dörfliche Prüderie, die hinter der Fassade nicht bröckelt, sondern ganz im Gegenteil erst interessant wird. Aus einer etwas bekloppten Idee, einer schrägen Perspektive heraus, zeigt Guhr damit eine Welt, die hinter den Gardinen gar nicht mehr so grau ist.
Die langen Arme strotzt nur so vor kreativen Ideen. Natürlich sind sie oft haarsträubend, aber genau das macht den kleinen Roman aus. Er ist offensiv verrückt, durch- und überdreht bis in die Schutzbrille, die Antje beständig aufträgt. Trotz aller überaus erfreulicher Absurdität wird dabei aber auch etwas transportiert, und zwar eine große Liebe zu den vielen Figuren. Denn der Blick hinter die Kulissen zeigt nicht etwa von der Etikette zerfressene Monster, sondern liebenswerte Menschen, die nach außen hin die Fassade der totalen Normalität aufrecht erhalten müssen.
So wirft der Gewinner des Blogbuster-Preises 2018 eine große Portion Liebe auf einen gestorbenen Staat, dem Liebe meist nur in der Form von eher bedenklicher Ostalgie entgegengebracht wird. Aber hier schwingt kein »Damals war alles besser mit«, weder Ostalgie noch Nostalgie. Die langen Arme von Sebastian Guhr singen ein absurdes Loblied auf die Menschen, die sich der Normalität auf ihre ganz eigene Weise widersetzen.
Sebastian Guhr
Die langen Arme
Kein & Aber
176 Seiten | 17 Euro
Erschienen am 8. Oktober 2019
[…] Diese Rezension erschien zuerst auf Poesierausch. […]