Donnerstag wurde wieder über Deutschland und seine Klassengesellschaft geredet und diskutiert. Die vierte Veranstaltung von »Let’s talk about class« mit Dilek Güngör, Jackie Thomae und Katy Derbyshire beschäftigte sich mit den Zusammenhängen von Migrationserfahrungen, Andersheit und Klasse sowie dem Kontrast zu England.
Auch im spätsommerlichen Berlin muss über Klasse geredet werden, auch dann, wenn die letzten lauen Tage die Menschen in die Parks ziehen. Viele Besucher*innen konnten aber nach wie vor nicht ins ACUD kommen, da die anhaltende Pandemie große Veranstaltungen nach wie vor nicht zulässt. Aber das Podium war mit Dilek Güngör, Jackie Thomae und Katy Derbyshire neben den Moderator*innen Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer hochkarätig besetzt, und auch im Publikum waren ein paar bekannte Gesichter, die sich in die abschließende Diskussion lebhaft einbrachten. Dazu später mehr. Los ging es mit Szenenapplaus aus dem Off – ebenso unverhofft wie passend sorgten die durchgehend geöffneten Fenster gleich für ausgelassene Stimmung.
Mit der Autorin und Kolumnistin Dilek Güngör als erster Gesprächspartnerin ging es zunächst um die Erfahrung von Anderssein in Deutschland und die Reaktionen der Betroffenen darauf. Ihre Familie ist aus der Türkei nach Schwäbisch Gmünd gekommen, wo die Eltern Arbeit fanden. Sie beschreibt ihre Jugend als von diversen Diskriminierungen geprägt, deren Gründe sie aber nie wirklich hinterfragte, sie vornehmlich bei sich selbst und der eigenen Leistung suchte. Erst viel später sorgte Didier Eribons Rückkehr nach Reims für das Erweckungserlebnis der Klasse – das dürfte wohl vielen so gegangen sein.
Güngör liest dann eine Szene aus ihrem aktuellen Roman Ich bin Özlem, dessen Protagonistin Özlem einen sehr ähnlichen Lebenslauf wie Güngör hat. Es geht um Schule, vielmehr die Entscheidung, auf welche Schule die Kinder gehen sollen. Hier kommen auch viele Linke an ihre Grenzen, wenn es darum geht, ob eine Schule mit hohem Anteil von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte für die eigenen Kinder in Frage kommt. Obwohl man ja eigentlich komplett für Zuwanderung ist, zerbrechen viele an der Entscheidung, die vermeintlich über die gesamte Zukunft der Kinder entscheidet. Und die dann viel zu oft zugunsten von »weißen« Schulen ausfällt, was die soziale Trennung immer weiter reproduziert und gläserne Wände einmauert. Konsequenterweise sagt Dilek Güngör, dass es für sie nie ein Ankommen in Deutschland gab und geben kann, solange sie und alle Zugewanderten als Andere gesehen werden – ganz egal, wie sie sich auch immer im Klassensystem verbessern mag.
Bei Jackie Thomae geht es dann, wie in ihrem Erfolgsroman Brüder, um die Herkunft aus der DDR, den Wechsel in die BRD und wie dies ihre Sicht auf das Konzept »Klasse« geprägt hat. Wenig überraschend kann sie mit dem Begriff nicht viel anfangen, da er ihre Jugend als Bestandteil des Staatsjargons der DDR prägte und praktisch leer war. Sie denkt lieber in Schichten, die sie jedoch auffallend weniger deterministisch sieht als die anderen Podiumsteilnehmer*innen. Sie stimmt Dilek Güngör aber komplett darin zu, dass gerade Eltern um die 40 die Effekte der Klassen- bzw. Schichtenstruktur zu spüren bekommen. Dann nämlich geht es darum, den Kindern etwas zu bieten, ihnen eine Wohnung, Bildung und damit Zukunft zu verschaffen. Der Erfolg darin ist nicht selten von der Herkunft der Eltern abhängig.
Der Ausschnitt, den Jackie Thomae dann aus Brüder liest, unterstreicht nochmal ihre Haltung. Sie liest ein Kapitel der Mutter von Mick, dem ersten Protagonisten des Romans. Sie ist mit ihrem Sohn aus der DDR in die BRD geflohen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Mit viel Selbstbewusstsein schafft sie es auch, ist jedoch beständig irritiert ob der auch im vermeintlich toleranten Westen ständigen Kommentare über die »große Blonde mit dem schwarzen Baby«. Gerade dieses Selbstbewusstsein zu stärken ist ein großes Anliegen Thomaes, weshalb sie permanente Berichte über das Armutsrisiko alleinerziehender Frauen in Deutschland mit sehr gemischten Gefühlen liest.
Katy Derbyshire lebt seit sehr vielen Jahren in Berlin und betätigt sich als Übersetzerin, Veranstalterin und nun auch Verlegerin des jungen Verlags V&Q Books, der in Kooperation mit Voland & Quist deutsche Texte ins Englische übersetzt. Im Stile ihrer »Dead Ladies Show«, die auch im ACUD zu Hause ist, zeigt sie in einer Diashow ihre Familiengeschichte, die einer typischen Arbeiterfamilie aus England. Auch wenn der Kampf mit der widerspenstigen Technik den Klassenkampf zeitweise überdeckt: ein überaus unterhaltsames Stück Geschichte von unten anhand alter Fotos, die in ein Museum der englischen Arbeiterklasse gehören.
Derbyshire erzählt mit der Geschichte ihrer Familie auch die Geschichte eines kleinen Aufstiegs über zwei Generationen. Waren ihre Großeltern noch typische Arbeiter*innen, die sich in der kommunistischen Partei engagierten und ihre Tradition stolz lebten, hat ihre Mutter ein Studium geschafft. Eine umso bemerkenswertere Leistung, da sie alleinerziehend mit zwei Töchtern war. Ermöglicht wurde der Aufstieg in die Mittelklasse durch eine Ausbildung des Vaters bei der BBC, die es ihm ermöglichte, genug Unterhalt zu zahlen. Abschließend empfiehlt sie das Buch Steal as much as you can von Nathalie Olah, ein radikaler Ratgeber für Menschen der unteren Klassen, der vor allem darauf abzielt, die Scham über die eigene Herkunft abzulegen und sich zu nehmen, was greifbar ist.
Damit fiel der Vorhang des offiziellen Teils, nach der Abschaltung des Streams war es aber an diesem Abend noch lange nicht vorbei. Die wohl lebhafteste Diskussion der bisherigen Class-Veranstaltungen folgte, eröffnet und angeheizt in erster Linie von einem Zwiegespräch zwischen Svenja Flaßpöhler und Anke Stelling, die beide im Publikum saßen. Dieser Beginn ermunterte in der Folge auch viele andere Teilnehmende, ihre Sicht und Meinung zu teilen.
So ging es zunächst um Veränderungen der Arbeit wie auch der verschiedenen Arten des Kapitals. Strukturieren diese Veränderungen etwa von Wohlstandssymbolen und Geschmäckern vielleicht auch die Klassen neu? Werden Migrationserfahrungen vielleicht gerade in urbanen Räumen zu einem neuen, bisher verkannten Kapital? Und wie verhält sich die deutsche Mittelklasse, das vermeintliche Bollwerk des Wohlstands, eigentlich wirklich zu Ober- und Unterklasse? Es gab kontroverse Meinungen zu den verschiedenen Themen, die die Diskussion überaus fruchtbar machten und auch später an de Bar nicht abreißen ließen.
Die nächste und für dieses Jahr letzte Ausgabe von »Let’s talk about class« gibt’s am 5. November, natürlich wieder im ACUD, natürlich auch wieder im Stream.
Der Stream der vierten Ausgabe kann hier nochmal angesehen werden: