Cemile Sahin legt nach: Erst letztes Jahr erschien ihr Debüt Taxi im Korbinian Verlag, schon folgt Alle Hunde sterben, diesmal bei Aufbau. Die Unterdrückung der Kurden in der Türkei steht wieder im Mittelpunkt.
Ein Hochhaus, irgendwo in der Türkei. Kaum ein Geräusch ist zu hören, es ist verdächtig still. Still, da sich alle, die hier sind, verstecken. Sie wollen nicht geholt werden, nicht besucht von einer Staatsmacht, die nicht in ihrem Interesse handelt. Für die sie Terroristen sind, qua Geburt. In diesem Hochhaus verstecken sich verstreute Kurden aus der Türkei, die nirgendwo anders mehr Unterschlupf gefunden haben. Und vorher meist alles verloren. Ihre Häuser, ihren Besitz, ihre Familienmitglieder. Hier fangen sie in einem Nichts neu an, das die meisten von ihnen am liebsten gar nicht mehr füllen würden.
Cemile Sahin entwirft in Alle Hunde sterben einen Komplex, der bevölkert ist von Verstoßenen, ungewollten Menschen. Der türkische Staat sieht sie wegen ihrer kurdischen Ethnie als Terrorist*innen an – meist ganz unabhängig davon, ob sie sich jemals politisch betätigt haben. Manche haben dies natürlich getan, sind in die Berge Richtung Syrien, den Irak oder den Iran gegangen, um zu fliehen. Doch wohin als Mensch ohne Staat?
Kapitel für Kapitel spricht eine der Bewohner*innen zu einer unsichtbaren Person, die sie zu ihrem Leben befragt. So werden Geschichten von Schikanierung, Unterdrückung, Folter, Leid und Tod erzählt. Die Interviewten scheuen nicht vor Details zurück, oft ist es hart an der Grenze des Erträglichen. Kaum eine Geschichte, die nicht mit dem Tod von direkten Angehörigen verbunden ist, in denen nicht Leichen herumgetragen oder Menschen bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gefoltert werden. Die Soldaten der Staatsmacht bleiben dabei immer gesichtslos.
Sie müssen mit guten Nachrichten in ihre Kasernen zurückkehren. Und gute nachrichten sind immer nur Nachrichten, die mit Zahlen zu tun haben. Mit Zahlen werden tote Terroristen gezählt. Nichts anderes. Aber in den Augen der Armee zählt die Hälfte des Landes zu den Terroristen. Da fragst du dich schon, ob alle wirklich dasselbe glauben.
Trotz der teils unglaublich bis unerträglichen Schicksale bleiben aber auch die Menschen im Hochhaus etwas gesichtslos. Zum einen liegt das im Stoff begründet, denn natürlich ist ihnen daran gelegen, nicht erkannt zu werden. Andererseits erscheinen mir ihre Stimmen aber auch recht einförmig geschildert, sie heben sich wenig voneinander ab, selbst wenn sie aus der Ich-Perspektive berichten.
Thematisch schließt Cemile Sahin direkt an den Vorgänger Taxi an. Auch dort steht die traumatische Erfahrung des Kriegs und der nicht schwindenden Bedrohung durch die Polizei als dröhnendes Grauen stets im Hintergrund. Hier wird es nun grell in den Vordergrund gezogen. Der Krieg Erdoğans gegen die Hälfte der eigenen Bevölkerung ist seit einigen Monaten durch seinen harten Rechtsruck wieder in den Fokus geraten. Die Kurden sind genau wie der Westen als Feinde nötig, um die Wähler*innen in einem kaputten Staat noch etwas länger zu mobilisieren und über die schwere Wirtschaftskrise hinwegzuretten.
Alle Hunde sterben ist ein starker, vielstimmiger Ruf nach Gerechtigkeit für die türkischen Kurden. Es stellt die Verbrechen Erdoğans an der eigenen Bevölkerung schonungslos in den Vordergrund, sodass es manchen Leser*innen kalt den Rücken hinunterlaufen wird. Richtig so, denn die Drastik der Situation ist kaum zu unterschätzen. Die kleinen stilistischen Mängel fallen dabei nur wenig ins Gewicht.
Cemile Sahin
Alle Hunde sterben
Aufbau
239 Seiten | 20 Euro
Erschienen im September 2019