Leonhard Hieronymi packt für seinen Debütroman In zwangloser Gesellschaft (Hoffmann und Campe) den Koffer und nimmt Pop mit. Und Tod. Und reichlich Bölk und Zigaretten natürlich, klar. Geht das Rezept der frühen 2000er auch 2020 noch auf?
Friedhöfe machen ihrem Namen traditionell alle Ehre, sind ruhige Orte, an denen die stille Erinnerung, die Contemplatio ihren Ort hat. Verträumte, bisweilen vergessene Refugien, in denen die Gebeine der Toten liegen. Interessant werden sie oft erst nach sehr vielen Jahren als Ausdruck einer ganz bestimmten Sepulkralkultur, die ausdrückt, wie eine Gesellschaft mit ihren Toten im Besonderen und damit dem Tod im Allgemeinen umgeht.
Leonhard Hieronymis Debütroman In zwangloser Gesellschaft begibt sich in Form des Erzählers auf zahlreiche Friedhöfe in ganz Europa, um Verstorbene zu besuchen und ihnen – zumindest ein bisschen – zu gedenken. Die Friedhöfe bzw. Verstorbenen sind aber nicht ganz zufällig ausgewählt, es sollen Literat*innen sein, Autor*innen. Ganz egal, wie berühmt oder unbekannt, im Zweifel zählt auch ein Drehbuch für irgendeinen schäbigen Film der 1920er. Oder eben Perry Rhodan. Eine Szene auf dem Berliner Friedhof Heerstraße:
Ich verfiel sofort nach Betreten des Friedhofs in Hektik, man konnte die Inschriften auf den Grabsteinen vielleicht noch eine Viertelstunde entziffern, danach würden sich alle Konturen in vollkommener Dunkelheit auflösen. Die schnell einsetzende Dämmerung und die dunklen Grabsteine erinnerten mich an die Szene aus dem Roman »Faserland«, in der die Hauptfigur das Grab Thomas Manns in Zürich im Licht von aufflammenden Streichhölzern sucht, aber einen Hund in der Finsternis sieht, der auf den Friedhof kackt – vielleicht sogar auf Thomas Manns Grab.
Wir sehen, hier wird reichlich Meta-Content geliefert. In zwangloser Gesellschaft bezieht seinen immer sehr verhaltenen Drive aus der Vergangenheit. Die Erinnerung an die toten Autor*innen, die Erkundung teils vergessener Orte, Abstecher in die eigene Vergangenheit, dazu Lektüreerinnerungen – alles hier schaut vor allem zurück. Nicht zuletzt auch natürlich auf die Popliteratur, deren unverstellten Hedonismus Hieronymi in der melancholischen Unsicherheit seines Protagonisten zwar bricht – der Selbstzweck seiner mit Trinkgelagen gespickten tour de force durch das tote Europa schreit aber so laut Pop, dass die Wände doch mal wackeln.
In zwangloser Gesellschaft muss sich daher vorwerfen lassen, dass er ziemlich im eigenen Meta-Saft schwimmt. So richtig in Fahrt kommt der Roman auch nicht. Er zeichnet sich vor allem durch eine Mischung aus Melancholie und dem fast trotzigen Festhalten an einer fixen Idee aus, die durch die Umstände immer wieder torpediert wird. Die nur lose verbundenen Episoden unterstützten die Unverbindlichkeit der ganzen Konstruktion.
Was sagt uns der Roman also? Auf eine Weise ist In zwangloser Gesellschaft eine Variation des Künstlerromans in einer verqueren, von der Popliteratur bestimmten Form. Gleichzeitig ist er vom Tod bzw. der Vergangenheit und der Erinnerung motiviert, melancholisch, aber nicht reaktionär. Ich muss jedoch sagen, dass mich seine programmatisch ausgestellte Zwanglosigkeit doch etwas zu sehr hat hängenlassen. Am ehesten ist der Roman also wohl die Suche nach künstlerischem Sinn in der Vergangenheit, die einen Anker bilden soll, der aber immer weiter entschwindet, in Vergessenheit gerät.
In zwangloser Gesellschaft ist ein respektables Debüt, das für mich aber doch etwas zu zwang- und damit leider oft auch antriebslos war. Und auch wenn gerade dies mit zur Aussage gehört: Es war doch ein bisschen wenig Neues, dafür viel Vergangenes. Immerhin macht Hieronymi keine Versuche, über Zitate aus Perry-Rhodan-Romane hinausgehende ultraromantische Wendungen oder Hints einzubauen. Das hat für mich bisher fast noch nie wirklich funktioniert, also gut so.
Leonhard Hieronymi
In zwangloser Gesellschaft
Hoffmann und Campe
240 Seiten | 24 Euro
Erschienen am 2.9.2020