Yishai Sarid: Siegerin

Auf Monster folgt Siegerin, auf die Erinnerungskultur der immerwährende Krieg: Yishai Sarid legt in Siegerin (Kein & Aber) den Finger tief in die nächste Wunde Israels. Schockierend und erhellend.

Sarid: Siegerin

Abigail ist Psychologin. Schon ihr Vater war ein bekannter Psychologe, alte Schule, klar, Freud und Jung, Penisneid und Todestrieb noch allerorten. Abigail will das besser machen, will die männlich geprägte Brille der bürgerlichen Psychologie des 19. und 20. Jahrhunderts zerschmettern. Aber natürlich will sie auch ihren Vaterkomplex damit brechen, und was könnte diesen mehr provozieren als das Militär? So wird Abigail nicht nur Psychologin beim israelischen Militär, sondern auch zur Psychologin des Tötens. Ihre Praxis soll helfen, den größtenteils blutjungen israelischen Soldat*innen das Töten, ja Morden zu erleichtern, es effektiver zu machen und Gewissenskonflikte zu vermeiden. Als ihr Sohn, der einer Affäre mit dem israelischen Oberbefehlshaber entsprang, sich zum Militär meldet, sind gleich mehrere Konflikte vorprogrammiert.

Yishai Sarid bleibt sich in Siegerin vollkommen treu. Er reibt wieder die Finger schön mit Salz ein und malträtiert die offenen Wunden der israelischen Gesellschaft als würde er Teig kneten. In Monster war es die Erinnerung an den Holocaust bzw. die Shoa, die in der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft immer mehr ein Eigenleben entwickelt und sich von den historischen Überlieferungen entfernt, zum Identitätskult wird, der sich zu einem tabuisierten Monster entwickelt. In Siegerin wendet sich der Autor dem Militär zu und dem zumindest offiziell unhinterfragbaren Diktum, dass Israel sich permanent verteidigen und seine Feinde töten muss, um als jüdischer Staat in einer feindlichen Umgebung überleben zu können.

Ich hörte verlegenes Tuscheln, als sie den Raum verließen: Wo blieb die Seele, die Ideologie, die Moral? Es hatte sie verletzt, dass ich den Menschen als simple Maschine, die durch Fäden bedient wird, dargestellt hatte. Aber das war mir egal. Ich will, dass sie sich im entscheidenden Moment, im Kampf, wenn die ganze Welt um sie her zusammenbricht, ohne Wenn und Aber an das Gesagte erinnern – und töten können.

Siegerin blickt tief in den Apparat des Tötens, der die Jugend Israels zu Psychopath*innen erzieht oder sie als gebrochene, traumatisierte Menschen wieder ausspuckt. Der Roman beobachtet, wie sich dieses Trauma paradoxerweise genauso naht- wie berührungslos an das kollektive Trauma der Shoa anschließt und die Gesellschaft durchzieht. Wie es in allen gesellschaftlichen Schichten und allen Altersklassen Spuren hinterlässt, zerstörte Identitäten, zerschlagene Familien. Und wie es sich doch nie mit dem beschäftigt, was hinter der Maschinerie liegt, worauf sie ausgerichtet sein sollte: den Sieg, den eine Siegerin ja erringen wollen sollte.

Siegerin lässt diese Ebene komplett außen vor. Die geschilderten Konflikte und Situationen sind zeitlich nicht einzuordnen, fiktiv. So bleibt auch der Nahostkonflikt als solcher unerwähnt, bleibt der Feind gesichtslos. Keine Gruppe wird jemals genauer spezifiziert, nicht der Iran, nicht die Hamas werden je erwähnt. Nur so konnte es wohl gelingen, den schmalen Roman gezielt auf die perverse Eigendynamik des Tötens im Auftrag das Staates zu konzentrieren. Und zwar im Auftrag eines Staates, der sich als Reaktion auf sechs Millionen ermordete Juden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet hat. Der Roman seziert diesen gordischen Knoten im Konstrukt der kollektiven Identität Israels sehr schön, ohne je einen eindeutigen politischen Fingerzeig darüber hinaus zu erheben. Die Thematisierung des Tabus muss hier genügen, und das tut sie.

Yishai Sarid gräbt sich mit seinen Romanen weiter vor in die kollektive Identität Israels mit all ihren Rissen und Widersprüchen. Siegerin erkundet die Psychologie des Tötens in einem Militär, dessen Anspruch zur permanenten Selbstverteidigung sich immer weiter zu verselbstständigen scheint. Der Roman belässt es bei der Konzentration auf diesen Aspekt und nimmt die internationale Perspektive bedacht aus – ein guter Schachzug, um den Fokus nicht zu verlieren.

Yishai Sarid

Siegerin

Kein & Aber

240 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 16. Februar 2021

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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