Jakob Nolte: Kurzes Buch über Tobias

Ein Nolte ist ein Nolte ist ein Nolte. Ist immer anders und immer gut. Kurzes Buch über Tobias (Suhrkamp) bildet da keine Ausnahme. Was es nicht einfacher macht, darüber zu schreiben.

Jakob Nolte: Kurzes Buch über Tobias

Nach dem überaus sonderbaren US-College-Krimi ALFF und der vollkommen abgefahrenen norwegischen Vampirgeschichte Schreckliche Gewalten kommt nun (endlich) der dritte Roman von Jakob Nolte, Kurzes Buch über Tobias. Dass er vieles anders macht als die beiden Vorgänger, ist keine Überraschung. Alle drei Bücher hält vor allem die Art und Weise zusammen, wie Nolte erzählt. Wie er Versatzstücke einer Geschichte mit abseitigem Text arrangiert und in ihnen die Realität, die wir kennen, immer weiter auf den Kopf stellt, sie Tropfen für Tropfen unterhöhlt. Der unterirdische Fluss, den er damit freilegt, reißt die Erwartungen an traditionelles Erzählen mit Gewalt weg, ja dreht selbst noch die Erwartungen an postmoderne Texte durch den Reißwolf.

Kurzes Buch über Tobias nimmt durch den Titel gleich mal die Haltung eines modernen Klassikers an, der Titel könnte auch von Robert Musil oder Martin Walser stammen. Ein klein wenig ist dies auch in einer im Gegensatz zu den Vorgängern zurückhaltenderen Erzählhaltung im Buch drin. Auch die Geschichte, die wie üblich in wild durcheinander gewirbelten Fetzen aus verschiedenen Zeiten, Orten und vielleicht auch Realitäten erzählt wird, hat etwas klassisches. Denn es geht darum, wie Tobias seinen Glauben findet und zu einer Heiligenfigur wird – mit reichlich Anspielungen auf die Bibel und andere Heiligenerzählungen, aber natürlich auch mit viel Ach und Krach.

Außerdem scheint mir Kurzes Buch über Tobias auch Noltes bisher persönlichster Roman zu sein. Auch wenn sich natürlich nichts einfach so übertragen lässt, geht es auch viel um den Literaturbetrieb. Es geht um Konkurrenz zwischen jungen Autor*innen, dem Druck, auf einen erfolgreichen Roman einen nächsten, noch erfolgreicheren folgen zu lassen, und natürlich um die literarische Bubble, die sich beständig um sich selbst dreht und sich langsam auffrisst. Als kleines Easteregg hat auch Juan S. Guse sein literarisches Abbild in Tobias’ Hildesheimer Mitbewohnerin Pedro bekommen, nachdem Nolte in Miami Punk auch seinen Auftritt hatte. Viele andere habe ich bestimmt überlesen.

Als Ausweg aus dem vielbeschworenen Haifischbecken des Literaturbetriebs eröffnet sich Tobias durch Zufall der Glaube. Natürlich geht er nicht einfach in eine Messe und entdeckt den Glauben für sich. Vielmehr überfällt ihn eine Erscheinung, während er eine Kirche besucht. Auch zuvor schon war er von einer Obdachlosen einmal geheilt worden. Der Glaube schien ihn verfolgt zu haben. Sei es wie es ist, über YouTube avanciert er zum Star eines neuen Spiritismus, nur um schließlich durch bloße Unbedachtheit auf der Straße zu landen und dort zu sterben. Gleich mehrmals, aber gut.

Beim Verlassen der Kirche warf er alles, was noch in seinem Portemonnaie war, in eine Spendenbox. Wie die anderen Gläubigen küsste er die Holztür am Eingang, senkte seinen Blick, bekreuzigte sich, kniete nieder und bekreuzigte sich wieder und wieder. Plötzlich hörte er das laute Geräusch eines Motors. Es kam nicht aus der Ferne, es begleitete nicht die systematische Bombardierung dieser Stadt oder den Bau eines Einkaufszentrums, sondern kam aus ihm selbst, von einem Ort, von dem er gerade erst erfahren hatte, dass er existierte: seiner Seele.

Kurzes Buch über Tobias steckt voller Anspielungen, voller Themen und Diskurse. Was man als Leser*in davon für sich mitnimmt, ist wohl gerade in dem begründet, was man selbst mitbringt. Für mich ist der Roman neben einer persönlich gefärbten Verarbeitung der Erfahrungen im Literaturbetrieb eine satirische Kritik an der neuen Lust an Spiritualität. Die katholische Heiligengeschichte steht gegen den schicken Lifestyle-Spiritualismus wie ein abgeranzter Röhrenfernseher gegen den neuesten Super-Curved-Flatscreen mit Ambilight. Aber eine Flucht bleiben beide.

Jakob Nolte

Kurzes Buch über Tobias

Suhrkamp

231 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 15.2.2021

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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