Aufwachsen unter den Augen einer Sicherheitsfirma: Johann Scheerer erzählt in Unheimlich nah (Piper) die Geschichte seiner Jugend im goldenen Käfig. Das geht durchaus nah, hat aber auch Motivationsprobleme.
1996 wurde Jan Philipp Reemtsma entführt, gut einen Monat lang war er in der Gewalt seines Entführers Thomas Drach, sein Verbleib für die Familie unbekannt. Sein Sohn Johann Scheerer schrieb einen Roman über diesen Monat, der alle Beteiligten ans Ende ihrer Kräfte brachte: Wir sind dann wohl die Angehörigen. Jan Philipp Reemtsma wird befreit, der Täter später festgenommen. Doch der Schatten der Entführung bleibt auf der Familie liegen. Das Leben ist von diesem Zeitpunkt an geprägt durch Abstimmungen mit einer Sicherheitsfirma, die der gesamten Familie auf Schritt und Tritt folgt, schwer bewaffnet und immer in höchster Alarmbereitschaft. Der zum Zeitpunkt der Entführung 14-jährige Johann Scheerer durchlebt eine ziemlich männerlastige Pubertät, was ihn auf mehreren Ebenen zeichnet. Unheimlich nah erzählt von dieser Zeit.
Mein Frauenbild war geprägt von meiner Mutter, meinem Vater und mehreren Dutzend von Männern, die denen ich meine Pubertät durchlebt hatte. (…) Doch darüber, was das über mein Frauenbild aussagte, hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Weder hatte ich Geschwister noch weibliche Freunde.
Das Zitat ist ziemlich aus dem Ende des Buchs. Bis dahin, also zu einer Selbsterkenntnis und -kritik, die den Namen verdient, ist es ein langer, steiniger Weg. Denn Johanns Pubertät läuft ziemlich isoliert ab. Er hat zwar Freunde, spielt auch mit ihnen in einer Band, die kurzzeitig recht erfolgreich ist, ist aber derart gehemmt, dass das ständige Kreisen seiner Gedanken einfach nicht aus der eigenen Enge ausbrechen will. Gefangen in den Häusern der Eltern, die von einem Sicherheitsdienst rund um die Uhr bewacht werden. Verfolgt von schwarzen Limousinen auf jedem Weg, den er außerhalb der Häuser tut. Begleitet von Polizeikonvois im Urlaub. Er ist derart gehemmt durch die Präsenz der schwarzgekleideten Männer, dass er durchgängig im eigenen Saft schmort, unfähig, sich anderen anzuvertrauen aus Scham über die eigene Situation. Das Gefangensein seines Vaters während der Entführung hat sich auf ihn und die ganze Familie übertragen. Ein goldener Käfig ohne Tür.
So verfolgen wir Johanns Pubertät, die im Roman nah am Moment geschildert wird. Der Ich-Erzähler in Unheimlich nah bleibt immer in der Situation, nur sehr selten löst er sich aus der erzählten Zeit und kommentiert das Geschehen aus einer späteren, erwachseneren Position. Das ist natürlich konsequent und gibt dem Buch den Charakter eines wirklichen Romans, weniger den eines zurückblickenden Memoirs. Allerdings verhindert es auch über große Teile jede Art der etwas tiefergehenden Reflexion. Das macht Unheimlich nah zu einem zwar intimen und irgendwie authentischen, aber auch recht repetitiven und über lange Strecken etwas schwerfälligen Buch.
Was dem Text dadurch aber komplett fehlt, ist eine Reflexion über Privilegien. Natürlich ist dies ein Coming-of-Age-Roman über einen pubertierenden Jungen in einer absoluten Ausnahmesituation – aber 2021 erwarte ich irgendwie mehr. Das Ziel einer möglichst nahen, authentischen und irgendwie auch naiven Herangehensweise ist konsequent, aber einfach nicht auf ganzer Linie befriedigend. Es gibt zwar Ansätze, aber die kommen erst ganz am Ende des Buchs – wie im Zitat oben – zum Tragen. Das ist schade, diese Ebene hätte das Buch für mich deutlich interessanter und auch relevanter machen können.
Unheimlich nah ist ein gut geschriebenes und interessantes Zeugnis einer außerordentlichen Pubertät. Der Roman zeigt die meist unbeleuchteten Folgen einer in allen Medien ausgeschlachteten Entführung für die betroffene Familie aus der Sicht des Sohns. Leider fehlt ihm über weite Strecken eine Reflexion der Situation und verpasst damit die Chance, über die durchaus unterhaltsame Schilderung hinaus etwas wirklich Relevantes zu sagen.
Johann Scheerer
Unheimlich nah
Piper
331 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 11.1.2021
Uh das hatte ich auch schon im Auge und empfand es als sehr interessante ungängige Perspektive. Schade, dass es an Tiefe fehlt. Hm… dann purzelt es wohl von meiner Wunschliste.
Grundsätzlich ist das schon auch interessant, ohne jede Reflexion auf die Länge aber leider extrem ermüdend … also wenn du dich nicht total für Security-Typen interessiert – dann eher nicht.