Was wäre Kreuzberg, was wäre Berlin ohne das Kottbusser Tor, den Kotti? Julia Rothenburg schreibt in Mond über Beton (FVA) eine empathische Geschichte des Platzes und seines prägenden Gebäudes in Angesicht von Gentrifizierung und sozialer Entfremdung.
Der Kotti ist Schandfleck und Identifikationspunkt in einem, für Berlin, aber noch viel mehr für Kreuzberg. Er steht für eine Zeit, in der brutalistische Betonkolosse ein neues Selbstbild verkörpern sollten. Eine Stadtplanung, die nach dem Motto »Viel hilft viel« Platz schaffen wollte für viele Menschen, bezahlbaren Platz, ja, aber dabei auch großzügig über Bedürfnisse nach Grünflächen oder überhaupt Raum für die einzelne Person hinwegsah.
Das NKZ, heute nur noch Zentrum Kreuzberg, ist ein Koloss eben dieser Zeit Anfang der 1970er Jahre. Mond über Beton von Julia Rothenburg gibt der Stimmenvielfalt in seinen Fluren, Gängen und Freitreppen herunter zum Kotti einen Ort. Der Roman versammelt sechs Hauptstränge mit verschiedensten Protagonist*innen aus dem NKZ und führt sie zu einer ebenso vielschichtigen wie einfühlsamen Geschichte zusammen.
Wir erleben den Alltag von Mutlu, einem alleinerziehenden Vater und Ladenbesitzer, seinen Söhnen Barış und Burak und seiner ihnen unter die Arme greifenden Nichte Aylin. Aber auch von dem Obdachlosen Ario, dem altlinken Paar Marianne und Günther sowie Stanca, die von ihrem Mann Heinrich nach Deutschland geholt wurde und nach seinem Tod nicht mehr weiß, was sie hier macht.
Getragen werden die verflochtenen Erzählstränge vor allem von der Nähe zu den Personen, die tief in der Sprache des Romans wurzelt. Hier zielt alles darauf, den Personen Stimmen zu verleihen, ohne dabei jedoch eine mehr ins (Kreuzberger) Zentrum zu rücken als andere. In Point-of-view-Technik versenkt sich die Erzählung manchmal tief in die Personen und schildert ihre Gedanken aus der ersten Person, nur um dann wieder herauszuspringen und die Geschichte in der dritten fortzusetzen.
Die Sprache selbst bleibt dabei relativ einförmig, wandelt sich aber genug, um den sehr verschiedenen Protagonist*innen ausreichend eigenes Profil zu geben. Überhaupt überzeugt die Sprache in Mond über Beton dadurch, dass sie einen abgehackten, gehetzten Gestus umsetzt, ohne dabei an Verständlichkeit oder Deutlichkeit zu verlieren. Der Roman gewinnt durch jedes verschluckte Wort nicht nur an Geschwindigkeit, sondern auch an Profil.
Tür: noch immer der Fußabtreter, das Willkommen, voller Flecken schon. Vages Licht darauf. Am Gangende die Fenster: schmierig, ölig, Blick auf das Kottbusser Tor. Kottbusser Tor, Kotti.
Gut sichtbar auf dem Platz die Jungsgruppe, Burak irgendwo darunter. Die Dämmerung hat noch nicht einmal begonnen, und trotzdem blinken schon die Werbetafeln, die Anzeigen. Sonne, Sterne, Mond überm Kotti. Das Licht auf den Köpfen der Jungs.
Vermischt werden die erzählenden Kapitel noch mit zeitgenössischen Artikeln aus der Presse, die die Zustände am Kotti aus meist eher großbürgerlicher Sicht beschreiben. Dazu gesellen sich Einmischungen des NKZ oder ZK höchstselbst, das zu den Protagonist*innen genauso wie zu den Leser*innen spricht.
Zusammen bildet der Roman damit ein Panorama ab, das scharfe Kritik übt. Kritik an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung wie auch der Politik, an verschlossenen Augen und gescheiterten Visionen ebenjener Politik. Aber auch an der Gentrifizierung, die am Kotti wie auch an anderen Stellen in Berlin Hipster und Obdachlose, Vergnügen und Überlebenskampf immer enger zusammenführen und das Elend zur Sehenswürdigkeit erheben.
Mond über Beton verleiht dem Kotti und seinen Bewohner*innen eine vielschichtige Stimme, die mich in allen Belangen überzeugen konnte. Dass der Roman sich bei aller Kritik und Abwechslung auch noch erstklassig und wie im Sog liest, ist dabei ebenso erstaunlich wie hart erarbeitet. Ein neuer Berlin-Roman abseits der schicken und trendigen Startups, den man lesen sollte!
Julia Rothenburg
Mond über Beton
FVA
320 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 4.3.2021