Von Esten und Russen: In seinem Roman Gogols Disko (Homunculus) steigert Paavo Matsin die permanente russische Bedrohung für das Baltikum zu einer beschwingten Dystopie in einem russisch annektierten Estland.
Gilt Polen oft als Puffer zwischen Osten – sprich: Mütterchen Russland, russische Konföderation, Ex-Sowjetunion – und Westen – sprich: NATO-Staaten –, so ist die Lage im Baltikum noch um einiges heikler. Geographisch noch deutlich enger an Russland und dessen kleinem diktatorischen Bruder Belarus, hat man sich hier früh für ein klares Bekenntnis zur NATO und der EU bekannt.
Damit sind die drei baltischen Staaten lange auch sehr gut gefahren, doch spätestens seit den Trump-Jahren und dem Wiederaufleben des Ost-West-Konflikts wird es doch schwieriger, ruhig zu bleiben. Diverse Truppenbewegungen und Muskelspiele aus Richtung Putin sind einfach schwer zu ignorieren, während sich der Westen durch eine immer höhere Rechtspopulistenquote in den Parlamenten selbst weiter schwächt und inhaltlich aushöhlt.
Paavo Matsin übersetzt diese Stimmung in seine beim Homunculus Verlag erschienene und von Maximilian Murmann übersetze Dystopie Gogols Disko. Der Blick beschränkt sich dabei auf Estland, das zu einem nicht weiter genannten, aber nicht zu weit in der Zukunft angesiedelten Zeitpunkt der Erzählung von Russland okkupiert ist. Die Esten sind nur noch eine verfolgte, ja verachtete Minderheit, die russische Mehrheitsgesellschaft hat die wichtigen gesellschaftlichen Plätze eingenommen. Dieses ist wohlgemerkt ein neues Zarenreich – auch wenn der Zar nie genannt wird, irgendwie kann man sich vorstellen, wer da sitzen könnte.
Im kleinen Städtchen Viljandi ist die Handlung von Gogols Disko angelegt. Der verschlafene Unort wird zum Schauplatz einer wirklich unerhörten Begebenheit: Gogol kommt zurück! Ja, der leibhaftige Schriftsteller Nikolai Gogol, dessen Roman Die toten Seelen zum inner circle des russischen Kanons gehört. Und was macht Gogol nun in dem kleinen Kaff? Natürlich, er sorgt für ordentlich Unordnung und Chaos, wie eben in einer vodkatriefenden Disko, wenn man so will.
»Hört mir aufmerksam zu, ihr feisten Mumien«, krächzte Gogol langsam, als würde er zu einer langen Rede ansetzen, hielt sich dann aber den schmerzenden Bauch mit einer Hand und gab Katerina zu verstehen, dass sie ihm abermals zur Toilette helfen solle. Bevor die Tür der goldenen Grabkammer zufiel, entwich Gogol ein mächtiger Furz. Und so wie eine Billardkugel vom Queue getroffen wird oder ein Siechender vom nächtlichen Fieber, verliebte sich Grigori Manschettowitsch Manschette in genau diesem Moment mit roher und unerklärlicher Kraft in die hilflose, aufopferungsvolle Frau mit den exotischen Wurzeln.
Gogols Disko ist alles andere als eine trübe Dystopie, ganz im Gegenteil: Mit anarchischem Humor und ungebremster Fabulierfreude schickt der Roman sein schräges Ensemble durch einen aberwitzigen Plot. Der schert sich weder um Realismus noch um Plausibilität, sondern setzt voll auf die Kraft der Fantasie, um zweierlei zu tun. Zum einen setzt er die Dystopie in Szene, die Angst der einfachen estnischen Bevölkerung vor dem Verschwinden, vor dem russischen Okkupator.
Doch gleichzeitig hält er die reine Lebensfreude seiner Protagonist*innen dagegen, die eine dumme Idee nach der nächsten in den Sand setzen. Doch das ist in keinster Weise deprimierend, im Gegenteil: Der Roman feiert die Schönheit des Scheiterns und Wiederaufstehens, und zwar auf sehr humorvolle Weise. Sprachlich lehnt sich Matsins Roman und genauso Murmanns Übersetzung an ebenjenen Gogol bzw. die russischen Klassiker an, was gelegentlich etwas gewollt ironisch daherkommt, meist aber sehr gut funktioniert.
Natürlich ist eine so entfesselte Fabuliererei nicht immer perfekt, oft schießt der Erzählspaß auch über das Ziel hinaus und wirkt hier und da etwas ermüdend. Glücklicherweise ist Gogols Disko aber ein kurzer Roman, der solche Momente leicht wegstecken kann.
Gogols Disko biete Dystopie von der humorvollen Seite, mit massenhaft anarchisch-bekloppten Einfällen und einer schwungvollen Erzählweise, die an die russischen Klassiker um Gogol und Dostojewski ebenso gemahnt wie an die schrägen Wirrungen Bulgakows. Ein wenig Hintergrundwissen über das Baltikum und Russland kann nicht schaden, um bei den vielen Anspielungen nicht den Faden zu verlieren, aber der Roman macht auch so Spaß.
Paavo Matsin
Gogols Disko
Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann
Homunculus Verlag
176 Seiten | 21 Euro
Erschienen am 25.2.2021
Das klingt herrlich bekloppt. Angesichts der Beschreibung habe ich auch sofort an Bulgakow gedacht.
Absolut!