Neun Frauen, neun Leben, neun vollkommen unterschiedliche Situationen. Doch eines eint die verschlungenen Stränge in Jovana Reisingers Roman Spitzenreiterinnen: Sie alle leben in einer frauenfeindlichen Welt, gegen die sie sich nach Kräften wehren. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Aber mit jedem Scheitern besser.
Wo wir sind, ist immer oben. Ein Zitat, mehr oder weniger, von Otto von Bismarck. Natürlich von einem Mann, und aus einer Zeit, als Frauen in Deutschland noch kein Wahlrecht hatten und ohne das Einverständnis des Ehemannes nicht arbeiten durften. Wie so vieles andere auch. Über hundert Jahre später hat sich einiges getan. Oder?
In ihrem großartigen Roman Spitzenreiterinnen blickt Jovana Reisinger auf fünf Tage im Leben von neun Frauen. Fünf Tage in einem nicht allzu fernen Jahr, das nicht näher genannt wird, aber (bis auf fehlende Corona-Bezüge) ziemlich nah erscheint. Fünf Tage in einer bayerischen Kleinstadt an einem See, traumhaft gelegen, idyllisch. Fünf Tage aber auch, an denen für die neun Frauen nicht immer alles zum Besten läuft.
So erzählt Spitzenreiterinnen von außergewöhnlichen Ereignissen wie einem Jobverlust, dem Tod des Ehemannes, plötzlichem Verlassenwerden aufgrund von Unfruchtbarkeit oder einer geerbten Villa. Genauso steht aber auch Alltägliches im Fokus: eine anstehende Hochzeit, ein erster Urlaub, ein zugelaufener Hund, ein stalkender Noch-Ehemann, eskalierende häusliche Gewalt.
Das Blut hatte sich längst durch die Unterhose gearbeitet, war gemächlich das linke Bein entlang geflossen und ist bereits eingetrocknet. Besonders weit kam es nicht. Weit genug jedoch, um seine Signalwirkung zu entfachen. Eine menstruierende Frau. Eine offene Wunde. Eine menstruierende Frau in der Öffentlichkeit. Damit ist sie unpässlich.
Ob positiv oder negativ: Es ist die große Qualität von Spitzenreiterinnen, alle Figuren mit entwaffnender Ehrlichkeit zu erzählen. Ängste, Vorurteile, Missgunst und Scham treffen auf unbändige Freude, Verbundenheit, ungeahnte Entdeckungen und Erfolg. Der Roman schildert all diese Gefühle der Protagonistinnen genau und ohne Weichzeichner.
Was dabei in aller Schärfe hervortritt, sind neun Frauen, die mit größter Liebe beschrieben werden. Ihre alltäglichen Kämpfe strukturieren den Roman. Spitzenreiterinnen zeigt die Frauen in einer Welt, die über einhundert Jahre nach Otto von Bismarck und seinem selbstverständlichen männlichen Selbstbewusstsein mehr Raum für Frauen geschaffen hat – und doch immer noch keine Welt ist, in der Gleichberechtigung auch nur ansatzweise erreicht wurde. Der Roman reckt aber trotzig die Faust in die Höhe, um den Kampf weiter zu kämpfen, komme, was wolle. Denn auch die neun Spitzenreiterinnen sind immer oben. Garantiert.
Jovana Reisinger
Spitzenreiterinnen
Verbrecher Verlag
264 Seiten | 22 Euro
Erschienen im Februar 2021