Ein falscher Gruß, und alles ist vorbei: Maxim Biller erzählt in Der falsche Gruß von den Tücken der deutschen Erinnerungskultur und der gefährlichen Scham, Nachkomme der Täter zu sein.
Wirkt das Cover von Maxim Billers neuem Roman Der falsche Gruß eigenartig aus der Zeit gefallen und doch sehr gegenwärtig, so ist es ganz ähnlich mit dem Protagonisten Erck Dessauer. Er ist jung und aufstrebend, intelligent und gut gebildet, fähig und bereit, bis zum Umfallen für eine Sache zu arbeiten. Und das Kind einer DDR-Intelligenzija-Familie will hoch hinaus im Kulturbetrieb.
Mit seinem ersten großen Sachbuch scheint es dann auch zu funktionieren. Er hat einen Vertrag mit dem prestigeträchtigsten Verlag der seit einigen Jahren wiedervereinigten Republik abgeschlossen – wir befinden uns in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends. Wichtig zu wissen, denn Soziale Medien und Mobiltelefone gibt es noch nicht. Hätte es diese gegeben, wäre die Geschichte vielleicht ganz anders gelaufen. Gerade ist aber die Kommunikation noch auf Post, Telefon und das gute alte persönliche Gespräch beschränkt, und Gerüchte machen deutlich langsamer die Runde.
Denn Erck passiert ein Malheur. Wenn man es so nennen möchte. So richtig erinnert er sich auch nicht, druckst beständig herum, wenn es um den wirklichen Hergang geht. Aber irgendwie hat er wohl vor seinem ehemals großen Idol und nun Erzfeind Heinz Ulrich Barsilay und dessen Freunden einen Hitlergruß gemacht. Oder etwas in der Art. In jedem Fall zerfrisst es Erck in den folgenden Tagen und Wochen, er kann kaum noch mit sich und seiner Umwelt leben, fürchtet beständig die Festnahme – oder Schlimmeres.
Als ich am Morgen nach meiner verrückten, schrecklichen Hitlergruß-Aktion im Trois Minutes aufwachte, fing ich sofort an zu weinen. Ich lag im Bett und guckte zum Fenster, in dem alles war wie immer im Winter – ein paar schwarze, spitze, krakelige Äste der uralten Kastanie vor meinem Haus und darüber ein farbloser, grauweißer Bring-dich-doch-um-Himmel –, und dabei heulte und schluchzte ich wie ein kleiner Junge.
Der falsche Gruß seziert Ercks Befinden nach dem Zwischenfall und führt dabei quer durch seine Lebensgeschichte. Zum ständig weinenden Großvater, der bei der Wehrmacht gedient hat, aber nie darüber spricht. Zum servilen Vater, der Professor in der DDR war, sich jedoch beständig über die Arbeiterklasse definierte und streng an den Linien der Partei lebte. Seiner Jugend in Leipzig. Immer im Mittelpunkt dabei sein Gefühl der Machtlosigkeit und Schwäche, das kontrastiert wird von Allmachts- und Gewaltfantasien.
Sein reflexartiger Hitlergruß in einer eigenartigen Situation der vermeintlichen Bedrohung bringt alles wieder ans Licht. Sein ganzer Abscheu, ja, sein Hass konzentriert sich dabei auf Barsilay. Dass dieser Jude ist, führt Erck auch in antisemitische Gedankengänge, in Opfer-Täter-Umkehr solidarisiert er sich mit seinen väterlichen Vorfahren, grenzt sich ab. Rutscht immer tiefer ab in seiner Spirale aus falsch verstandener Holocaust-Aufarbeitung, Antisemitismus und Machtlosigkeit. Letztere hat wohl auch viel mit den männlichen Figuren in seiner Familie zu tun, die nicht seinen Vorstellungen von Männlichkeit entsprechen – wie er selbst auch.
Damit beschreibt Der falsche Gruß auf gerade einmal knapp 120 Seiten exemplarisch das Dilemma vieler Menschen, vor allem vieler Männer in Deutschland, die sich permanent zu kurz gekommen fühlen und ihren Frust auf Minderheiten abladen. Dass gerade die Erinnerungskultur immer wieder Jüdinnen und Juden in den Mittelpunkt stellt, während die Deutschen als Tätervolk hier zu schweigen haben, wird da schnell zum Stein des Anstoßes. Genau das mag Björn Höcke wohl in seiner bezeichnenden Rede zum »Denkmal der Schande« gemeint haben, die in rechten Kadern zu grölendem Applaus führte, aber auch Anklang in der Mitte fand. Gerade dies ist die Gefahr, die Biller hier im Blick hat.
Der Roman beschränkt sich komplett auf die Innensicht Ercks, weshalb das Vorhaben auch auf kleinstem Raum gelingt. Der falsche Gruß gibt einen pointierten, bisweilen witzigen, oft aber auch durch seine entwaffnende Offenheit beschämenden Blick auf einen Menschen frei, der aus reiner Kränkung und entgegen all seiner Bildung und humanitären Einstellung nach rechts driftet. Nach Sechs Koffer wieder ein kunstvoll komprimierter Roman, der kein Wort zu viel enthält, aber alles sagt.
Maxim Biller
Der falsche Gruß
Kiepenheuer & Witsch
128 Seiten | 20 Euro
Erschienen im August 2021