[class] #9 »Mythos Mittelklasse« mit Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser

Es heißt wieder »Let’s talk about class« im ACUD in Berlin Mitte. Zum Thema »Mythos Mittelklasse« kommen diesmal Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser zusammen und diskutieren mit Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer.

In den letzten gut fünfzig Jahren ist die Mittelklasse immer breiter geworden, hat immer mehr Menschen, immer mehr Milieus in sich aufgenommen. Was zuerst mal nach einer Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation für einen Großteil der Menschen aussieht, ist das aber nur bedingt. Denn mit der Verbreiterung wird auch immer unklarer, wo Trennlinien verlaufen, und die Spanne zwischen oberer und unterer Mittelklasse wird immer größer. Zumindest, wenn man auf das Einkommen als einziges Merkmal schaut. Aber wie wir seit Bourdieu wissen, ist das schon länger nicht mehr alles.

Julia Friedrichs macht den Anfang. Die Autorin hat mit ihrem Buch Working Class einen eigentlich aus England bekannten Begriff nach Deutschland geholt. Auch hier gab es schon lange eine Arbeiter*innenklasse, die sich jedoch im Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft immer weiter von ihrer klassischen Form entfernt hat. Sie nimmt die Arbeit als zentrales Kriterium für ihre Definition einer Mittelklasse, die angestellt arbeitet.

Was sich dabei zeigt, sind die riesigen Unterschiede, die die Mittelklasse der Angestellten prägen. Am unteren Rand stehen Menschen, die Müll sammeln, aber nicht bei der Stadt angestellt sind, sondern bei Subunternehmern, die sich kaum an gesetzliche Standards gebunden fühlen. Und die trotz Vollzeitbeschäftigung aufstocken müssen, Geld vom Amt erhalten, da sie trotz ihrer Arbeit als arm gelten und ihren Lebensunterhalt davon nicht bestreiten könnten. Ganz anders höhere Angestellte, meist in Büros, die kein Problem mit ihrem Einkommen haben, aber mit der Abhängigkeit von ihrer Arbeit doch in einer ähnlichen Position sind.

Volkan Ağar geht mit seinem titellosen Text, den er vielleicht »Sehnsuchtsort Mittelschicht« nennen würde, in eine etwas andere Richtung. Er schaut darin zurück auf seine Jugend. Seine Eltern sind aus der Türkei eingewandert. Als Jugendlichem wurden ihm die Unterschiede zwischen ihm und seiner Familie zu den alteingesessenen deutschen Familien immer wieder schmerzlich bewusst. Sie fühlten sich als Unterklasse und sehnten sich nach Anschluss nach oben, in die sagenumwobene Mittelklasse, die Wohlstand versprach.

Bezeichnend ist dabei die Ambivalenz von Anpassung und Identitätsbewahrung im neuen Land. In den 1980er- und 1990er-Jahren war es noch alles andere als selbstverständlich, der Mittelschicht anzugehören, ohne den Habitus einer Mitte, die hier eher dem eingesessenen Bürgertum entspricht, zu teilen. Hier spielt es nun weniger eine Rolle, wie viel Einkommen eine Familie hat oder ob und wie die Familienmitglieder arbeiten. Es ist der Lebensstil, der über die Zugehörigkeit zu dieser Form der Mittelschicht entscheidet. Dass dieser natürlich auch immer ökonomisch und sozial fundiert sein muss, ist aber ein entscheidendes Detail.

Journalistin Mareice Kaiser hat zuletzt mit ihrem Buch Das Unwohlsein der modernen Mutter für Aufsehen gesorgt. Bei ihrem Text handelt es sich aber um einen ersten Auszug aus dem kommenden Buch Klassenfahrt. Es geht darin um ein Kind, das in der Unterschicht aufwächst und die Armut der Familie im Vergleich zu den Freund*innen zum ersten Mal mit zwölf Jahren so richtig spürt. Auch hier geht es neben Geld vor allem um Habitus, um das kulturelle Kapital, das in bürgerlichen Familien wie selbstverständlich tradiert wird. Kinder aus der Unterschicht gehen dabei zumeist leer aus, was dann bei einem späteren Klassenaufstieg immer wieder zu unangenehmen Situationen führt – sowohl aus Unwissen als auch durch die Diskrimierung der alteingesessenen neuen »Klassenkameraden«.

Mareice Kaiser legt damit den Fokus der Mittelklasse auf die Bildung. In ihr steckt neben dem im Elternhaus nötigen Geld einer der wichtigsten Schlüssel zur Erwerbung eines Klassenhabitus. Die Hindernisse, die Kindern aus Arbeiter*innenfamilien bei der Erlangung von höherer Bildung in den Weg gelegt werden, sind dabei extrem stark. So wird zum einen soziale Mobilität verhindert und zum anderen denjenigen, die den Aufstieg schaffen, das Leben weiterhin extrem schwer gemacht.

Wo liegt dann jetzt noch der Mythos Mittelklasse, um den es heute gehen soll? Es ist wohl gerade die schwierige Definition dieses mittleren Raums der Klassengesellschaft, der für die einen Sehnsuchtsort, für die anderen Schicksalsgemeinschaft, für wieder andere Abstiegsangst verkörpert. Kaum aber ist die Mittelschicht heute noch ein Ort der Identifikation, wie es die Arbeiter*innenklasse oder auch das Spießbürgertum vielleicht mal waren. Durch die Pluralisierung der Lebensformen und das Tabu »Geld« ist die Mittelklasse so sehr in kleinste Gruppen versprengt, dass sie als Klassengemeinschaft kaum noch identifizierbar ist.

Beim Thema Neid kommen die fünf Diskussionsteilnehmer*innen dann zum Ende hin nicht ganz überein. Die These, dass der Neid aufeinander wie auch auf reichere Menschen gerade in der Mittelschicht sehr ausgeprägt sei, wird unerbittlich ausdiskutiert. Zuletzt geht es dann noch um die Norm, den Reiz der Mittelschicht als Mitte der Gesellschaft. Gerade die Schwammigkeit der Mitte stellt sich dabei als Ort heraus, an dem sich so gut wie alles ansiedeln lässt, ohne dabei zu extrem zu erscheinen. So ist die Mitte doch am Ende alles, Mythos, Utopie und Sehnsuchtsort zugleich. und ganz nebenbei auch noch der ökonomische Rückhalt der Gesellschaft – wenn die Menschen denn trotz Arbeit tatsächlich in ökonomisch sicheren Gefilden leben.


Den ganzen Abend zum Nachschauen (inklusive einiger Minuten Pause aufgrund von technischen Problemen) gibt es hier:

Die nächste Diskussion und die Jubiläumsveranstaltung #10 findet zum Thema »Herkunft und Geld« am 16. Dezember statt.

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Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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