Ach ja, die Uni! Eine wilde Zeit mit viel zu viel Theorie und meist zu wenig echtem Leben dabei. Pola Oloixarac schlägt die Brücke zwischen den Welten in Wilde Theorien, indem sie Wissenschaftsgeschichte und Campusleben postmodern arrangiert.
Wo anfangen bei einem Roman, der zwar nicht gerade tausend Plateaus enthält, aber doch auf vielen Ebenen gleichzeitig funktioniert und diese in vielen Fällen eher assoziativ verknüpft? Einfach irgendwo. Also los. Wir befinden uns ungefähr in der Gegenwart, ein bisschen davor wohl, frühe 2010er-Jahre vielleicht.
Da wäre also die Erzählerin, eine Ich-Erzählerin, die sich ab und an zu erkennen gibt. Ob sie auch die anderen Stränge erzählt, muss zumindest unklar bleiben. Sie ist in jedem Fall Philosophiestudentin, hat überaus starke Meinungen und sticht dabei vor allem durch einen feministischen Blick heraus, der in der überaus problematischen Verbindung zu ihrem großen intellektuellen Idol aber auf eine schwere Probe gestellt wird.
Dann sind da die junge Kamtchowsky und ihr Freund Pablo, genannt Pabst, deren große Leidenschaft die intellektuelle Auseinandersetzung ist, wodurch sie sich von allen anderen absetzen. Sie fühlen sich durch ihr nicht norm-schönes Äußeres als Aussätzige, was sie so kompensieren. Und durch sehr gut aufgenommene Indie-Filme. Die wiederum bringen sie in eine wilde Sex-Freundschaft mit einem It-Couple von Buenos Aires. Überhaupt sind sie Anfang zwanzig, und Sex und Identität sind ziemlich große Interessen der beiden.
Kurz nach der Niederschrift dieser Behauptung legte Kamtchowsky wich einen Freund zu. Er hieß Pablo, trug eine Brille und drückte mit seinem ganzen Körper auf schmerzliche Weise aus, wie unbehaglich er sich fühlte; sie waren sich mehrmals im Kino des Malba begegnet. Anfangs sahen sie sich nur von Weitem, dachten aber beide, sie wären sogar für jemanden, der genauso scheußlich war wie sie selbst, zu scheußlich.
Und da ist auch noch der niederländische Ethnologe/Anthropologe Johann Van Vliet, der Anfang des 20. Jahrhunderts indopazifische Sprachen und Kulturen erforscht und dort verschollen geht. Oder sich von der westlichen Welt abwendet – wie man möchte.
Alles in Wilde Theorien wird dabei von einer Theorie zusammengehalten, und zwar der fast vergessenen psychologischen These der Egoischen Übertragungen. Alle Personen haben irgendeine Beziehung zu dieser Theorie, sodass sie als das Gelenk im Zentrum des Romans gelten muss. Entsprechend sind die Verknüpfungen auch nicht immer offensichtlich, sondern eher assoziativ oder allgemein recht vermittelt. Zwischen den erzählten Teilen stehen wiedergegebene Texte, die die theoretische Seite noch einmal vertiefen oder die historische Ebene weiterführen.
Mich konnte Wilde Theorien vor allem in seinem Plot um Kamtchowsky und Pabst und deren gestörten, entwaffnend ehrlichen und überaus schmerzhaften Beziehung zu sich selbst begeistern. Es ist ein Coming-of-Age in Argentinien, genauer in Buenos Aires, das durch seine genaue Beobachtung sowohl Milieu als auch typische Gedanken des Ungenügens sehr schön einfängt.
Was für mich nicht so funktioniert hat, war das postmoderne Knistern zwischen den montierten Teilen. Natürlich gibt es über die Theorie der Egoischen Übertragung eine Verbindung, doch bleibt diese über weite Strecken ebenso abstrakt wie die Theorie selbst. So war es zeitweise eine Herausforderung, beim Lesen dranzubleiben.
Wilde Theorien von Pola Oloixarac ist ein vielschichtiger, verschlungener Roman, der sehr viel Aufmerksamkeit und den Willen erfordert, sich in ein theoretisches Gefecht zu vertiefen, das abseitige Stränge zusammenfließen lassen kann. Wer das aufbringt, kriegt einen überaus interessanten und auch ziemlich anderen Campus-Roman zu lesen, der die ausgestellte Intellektualität der Protagonist*innen auch in die Form nimmt. Ein Experiment, das mit den Lesenden steht oder fällt.
Pola Oloixarac
Wilde Theorien
Wagenbach
256 Seiten | 22 Euro
Erschienen im März 2021