Nicht nur in der Migrationsdebatte sind Grenzen ein entscheidendes Thema. Andreas Malm wendet sich in Anbetracht der anschwellenden Klimakatastrophe der philosophischen Frage zu, wo die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft verläuft.
Andreas Malm mausert sich zu einem der maßgeblichen Intellektuellen der Klimakrise, zumindest wenn es um die linke Seite geht. War Klima|x vor allem ein Essay über die Dringlichkeit des Themas und der Handlungsunwilligkeit der weltweiten Politik, beackert Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen die Notwendigkeit von gezielten Aktionen, um Druck auf die im globalisierten Kapitalismus gelähmte Politik aufzubauen. Der Fortschritt dieses Sturms ist bereits älter, das Buch wurde zuerst 2018 bei Malms Stammverlag Verso in London veröffentlicht. Das macht es manchmal etwas eigenartig, da es in der sehr lebendigen Debatte im Detail schon überholt ist. Aber um aktuelle Details geht es in dem Buch nicht, daher fällt das weniger ins Gewicht.
Denn Der Fortschritt dieses Sturms wendet sich den philosophischen Grundlagen der Klimakrise zu und versucht damit, die Grundlagen einer Theorie zu finden, in der sich das Verhältnis von Mensch und Natur im Anthropozän adäquat beschreiben lässt. Man merkt den ersten zwei Dritteln des Buchs geradezu an, wie sehr sich Malm über philosophische Strömungen ärgert, die die Handlungsmacht des Menschen schmälern und ihn damit aus der Schusslinie nehmen, wenn es um Schuld an der wie auch Arbeit gegen die sich akut verschlimmernde Klimakrise geht.
Und damit richtet sich das Spotlight komplett auf Bruno Latour und die seiner Hybridismustheorie folgenden Strömungen. Malm nimmt diese sehr detailliert auseinander und kritisiert deren Ontologie bzw. philosophische Grundannahmen. Latours Denken basiert auf dem Konstruktivismus (im Buch eigenartigerweise immer »Konstruktionismus« genannt), sodass jede Interaktion mit der Welt notwendigerweise über Medien vermittelt ist, jede Begriffsbildung also nur eine Konstruktion sein kann und nie die Welt an sich greift.
Auch die Natur ist damit natürlich ein reines Begriffskonstrukt, dessen Reinform durch menschliche Einflüsse nicht mehr existiert: die Welt ist ein Hybrid. Um nun aber Veränderungen wie Umweltverschmutzung oder ähnliches zu beschreiben, wird es dann sehr kompliziert bis abwegig, wie etwa der noch relativ junge Arm des Neuen Materialismus zeigt, der die Handlungsmacht viel mehr in die Dinge legt als dem sie benutzenden Menschen zuzuschreiben.
So klar die einfach gefasste Intention der Theorie ist, neue Möglichkeitsräume durch die Entdeckung neuer Materialien zu erklären, zeichnet sie sich aber am Ende vor allem durch eine Entlastung der Menschheit von jeglichen Handlungsfolgen und damit auch zukünftigen Handlungswirkungen aus. Ein fataler Rückschritt in einer Welt, die menschengemachten Klimawandel durch konzentriertes menschliches Handeln beschränken muss.
Die Erschließung eines Regenwalds zur Ölexploration verwischt die Linien zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen, und das ist keineswegs zu bejubeln. Hybridismus ist das theoretische Spiegelbild der homogenisierenden Bulldozer des Kapitals.
Die Auseinandersetzung Malms mit dem Hybridismus ist zugegebenermaßen etwas lang geraten und durch den offensichtlichen Clash zwischen kontruktivistischer Theorie und Aktionismus auch etwas quälend. Nichtsdestotrotz kann Malm auch immer wieder neue Aspekte herausarbeiten, die wichtige Punkte für eine andere Position sind. Diese Position beschreibt er im letzten Teil des Buchs, der gegen die detaillierte Kritik Latours aber etwas kurz kommt.
Nicht überraschend landen wir wieder bei Marx und dessen historischem dialektischen Materialismus. Nicht überraschend auch deshalb, weil mir gleich am Anfang das bekannte Diktum von Marx über Hegel in den Kopf kam, das die Auseinandersetzung Malms mit Latour ebenfalls genau beschreibt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber drauf an, sie zu verändern.« Wobei hier natürlich die Lage eine etwas andere ist: Die Welt ist bereits massiv zum Schlechten verändert, und wir müssen sie weiter verändern, um sie zu erhalten.
Der Fortschritt dieses Sturms ist eine wütende philosophische Kritik, was ein klein wenig Fluch und Segen ist. Denn zumindest für mich schießt die Kritik in Ausführlichkeit und Wiederholung doch regelmäßig über das Ziel hinaus, gerade weil sie von Anfang an so offensichtlich ist. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen. Gleichzeitig führt die Wut Malms aber auch immer wieder zu sehr treffenden Bildern und Sätzen, die mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben.
Andreas Malm
Der Fortschritt dieses Sturms.
Natur und Gesellschaft in einer sich erwärmenden Welt
Aus dem Englischen von David Frühauf
Matthes & Seitz Berlin
330 Seiten | 28 Euro
Erschienen im September 2021