Heute stellen wir euch den vierten von fünf Texten der Shortlist zum WORTMELDUNGEN-Literaturpreis für kritische Kurztexte vor, den wir dieses Jahr begleiten: Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils von Volha Hapeyeva.
Was ist ein poetischer, persönlicher Text im Angesicht der heutigen Welt noch wert? Lässt sich die Schönheit von Dichtung oder die geistige Erfüllung, die das Lesen etwa eines gut geschriebenen Essays hervorrufen kann, gegen das Elend der Welt aufwiegen? Gegen einen seit Jahren währenden Krieg im Jemen, gegen Millionen unterernährter Kinder im globalen Süden, gegen Lieferketten, welche Risiken immer weiter aus den wirtschaftlichen Zentren heraus bewegen, herein in die ohnehin prekäre Peripherie?
Natürlich ist die unmittelbare Gegenüberstellung von Poesie und menschlichem Leid unfair, wenn man der Poesie nicht mehr Wirkmacht zugesteht, als um ihrer selbst Willen schön zu sein – was längst überholt ist. Und doch sehen sich auch und gerade heute noch Schriftsteller*innen mit Fragen oder Aussagen konfrontiert, die genau diesen Gegensatz wieder aufmachen. Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils von Volha Hapeyeva setzt anekdotisch an diesem Punkt an, um von dort in eine Assoziationskette zu springen, die die Wirkmacht der Sprache im Allgemeinen und der Poesie im Besonderen im Spiegel des eigenen Lebens im Exil reflektiert. Damit schreibt sie nonchalant auch über den zentralen Punkt des WORTMELDUNGEN-Programms.
Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils berührt wesentliche Fragen rund um Sprache und Poesie in einer kreisenden Bewegung. Es geht dabei um Heimat und Muttersprache, um Patriarchat und Emanzipation durch sprachliche Wirkmacht – und natürlich das Exil als Dreh- und Angelpunkt. Denn Volha Hapeyeva kommt aus Belarus, einem Land, das auch nach dem Zerfall der Sowjetunion weiter praktisch eine Diktatur blieb und seitdem allen oppositionellen Stimmen das Leben im Land schwer gemacht hat. Spätestens seit den Aufständen im letzten Jahr ist die Stimmung extrem feindlich. So ist ihr Essays auch eine Art Selbstfindung, ein Suchen nach der politischen und gesellschaftlichen Wirkmacht der Poesie, die ihre ganz eigene Stimme und Sprache ausmacht.
Hier könnt ihr den Essay von Volha Hapeyeva nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.
»This not the time for poetry.« lautete 2020 die Absage für die Vorstellung deines Lyrikbands bei einem einflussreichen belarussischen Portal – wie ist es in deinem Heimatland momentan um die Kultur bestellt?
Die Situation ist sehr schwierig. Viele KünstlerInnen, die, die es konnten, haben das Land schon verlassen, manche sitzen im Gefängnis, die meisten nicht staatlichen Kultur-Institutionen und Galerien wurden geschlossen. Die unabhängige Kultur, ihre AkteurInnen, die auch Verlage oder Buchhandlungen führen, fühlen sich stark unter Druck gesetzt. Die Situation ist wie in einem absurden Theaterstück – man darf z.B. zurzeit Kombinationen der Farben weiß und rot nicht benutzen, sagen wir als Buchumschlag, weil das sofort als Symbol von Protest betrachtet wird, für das man eine Strafe bekommt, und das ist noch das beste Szenario. Die Lage war auch schon nicht so gut vor den Protesten. Das Leben kleiner Kultur-UnternehmerInnen war immer schwer in Belarus – wegen der Steuer (die für Verlagstätigkeit in Belarus höher ist als im benachbarten Russland: 20% vs. 13%. Das gilt auch für die Druckkosten von Büchern – die liegen in Belarus über dem Niveau sämtlicher Nachbarländer) und wegen der völligen Abwesenheit von Unterstützung durch den Staat (es gibt keine Programme, die die Übersetzung von belarussischer Literatur in andere Sprachen fördert wie in anderen post-sowjetischen Ländern). Wenn früher der Staat schon gar nichts getan hat, um die unabhängige Kulturszene zu unterstützen, dann blockiert er sie jetzt komplett und behindert die künstlerische Arbeit.
Du schreibst in deinem Essay, dass Sprache nie neutral, nie objektiv und immer politisch sei – inwiefern gilt dies auch für die Poesie, die du als dein Zuhause benennst?
Vielleicht sollte ich hier erwähnen, dass ich das Wort politisch im breiteren Sinne verwende, synonym zu Polis, d.h. ich verstehe das Politische als das Gesellschaftliche. Alles, was in einer Gesellschaft passiert, ist politisch, auch die Sprache.
Ich bin nicht die Einzige, die meine Poesie liest (Gott sei Dank:)) und jede Leserin oder jeder Leser hat das Recht auf ihre eigene Interpretation, und als Autorin muss ich auf diese Tatsache vorbereitet sein. Wichtig ist nicht nur, wer schreibt, sondern auch wer liest, aus welchen Gesichtspunkten, in welchen Umständen etc., z.B. habe ich ein Gedicht geschrieben, »Es ist schwer eine Straße zu sein«, das wurde vor vielen Jahren verfasst, aber heute kann man es anders lesen, im Licht der Krisensituation in Belarus (für eine solche Interpretation danke ich der Autorin und Kritikerin Ursula Krechel). Vielleicht ist es das Paradox der Poesie, dass sie für mich einerseits höchst subjektiv ist, weil ich mich nur mit mir selber und durch mich hindurch schlage, wenn ich schreibe, denn nur dann wird etwas gelingen. Das bedeutet individuell, subjektiv zu sein, aber andererseits entsteht durch diese Subjektivität auch eine seltsame Verbindung mit anderen Menschen, die meine Werke lesen, als ob das, was ich schreibe, objektiv richtig sei. Ich will natürlich objektiv bleiben in dem Sinn, dass ich niemanden ver- oder beurteilen will, ich beschreibe das, was ich sehe und wie ich es sehe, aber ich verstehe sehr gut, dass es Menschen gibt, die das anders verstehen und sehen.
Außerdem kritisierst du in deinem Essay das Patriarchat. Inwiefern kann Sprache in patriarchalen Systemen auch ein Mittel zur Emanzipation sein?
Ja, wir haben diese Sprache und müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Es ist wichtig, welche Worte man benutzt, und auch, worüber man schreibt. Englisch wie auch Deutsch und andere europäische Sprachen wurden schon seit den 1960er Jahren reformiert, so dass Frauen in ihr sichtbarer sein konnten, oder auch andere marginalisierte Gruppen, auch Männer, die patriarchalischen Normen nicht entsprechen. Aber wie in jeder Situation kann das zu Überspitzungen führen und so genannte political correctness kann auch sehr giftig sein, wenn man mit ihr falsch umgeht. Es wäre gut, sich daran zu erinnern, dass die Sprache nie so funktioniert, wie wir es zu wissen glauben, sie ändert sich ständig, und sehr oft entstehen diese Änderungen weil die Menschen sich so entschieden habe. Ich denke an das Beispiel mit den englischen Fürwörtern he/his, das nicht etwa von Anfang an ein neutrales generische Pronomen für männliche und weibliche Formen war, sondern von einer rein männerbesetzten sprachwissenschaftlichen Kommission im Jahr 1850 eingeführt wurde und die Pronomen they/theirs ersetzte.
Aber ja, die Sprache hat ihre Grenzen, und wir haben sie auch, weil wir in den Sprachen wohnen, und ich glaube, dass die Poesie uns hilft, diese Grenze, wenn schon nicht zu überschreiten, dann aber wenigstens auszuweiten.
Das Konzept der »kulturellen Gewalt« nimmt in deinem Text einen großen Stellenwert ein. Wie kann jede*r einzelne diese Mechanismen in konkreten Situationen aufbrechen?
Man kann immer wieder Fragen stellen, seiner inneren Stimme zuhören: Wie weit fühlst Du Dich noch wohl mit dem, was um Dich herum geschieht? Man kann auch aufmerksam sein, wie andere sich fühlen, was sie sagen.
Disziplin ist doch auch Gewalt, oder? Aber wir benutzen sie, um unser Leben besser zu machen, wir richten Hunde ab oder erziehen Kinder – die Frage ist aber immer: mit welchen Methoden?
Manchmal üben die Menschen, die in Institutionen der Disziplinierung arbeiten, gern ihre Macht aus. Als ich z.B. ich im Krankenhaus war und einen Arzt fragte, was die Behandlungskur für mich wäre, antwortete er: »Lassen wir es ein Geheimnis für Sie bleiben.«
Als Dichter problematisiere ich solche Beobachtungen in meinen Texten. Was mir wichtig ist, ist das sichtbar zu machen. Gewalt mag das Schweigen und geschlossene Räume.
Die anderen Situationen, in denen kulturelle Gewalt in der Literatur oder Kunst zutage tritt, zeigen sich, wenn Kanon und Regeln herrschen, die alles bestimmen, dann kommen Menschen, die diese Kanons zerstören. Die ganze Geschichte von Literatur und Kunst oder auch Wissenschaft ist auf diesem Muster aufgebaut. Erinnern wir uns an die erste Ausstellung der Impressionisten oder die Reformierung des Haikus oder der Tanka-Dichtung am Anfang des 20. Jahrhunderts – es galt als grober Fehler zwei Saison-Wörter in einem Gedicht zu benutzen, aber genau das war es, was Yosano Akiko in ihren Tankas machte, und das war sehr mutig, geradezu eine Herausforderung damals an das Establishment.
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
»Heutzutage« ist nichts Besonderes. Wir denken vielleicht, dass gerade jetzt so etwas wie eine außerordentliche Zeit ist, aber wenn wir die Texte oder Memoiren aus früheren Zeiten lesen, sehen wir, dass das nicht stimmt.
Literatur ist eine Art des Denkens, genau wie Poesie oder Wissenschaft, wir alle beten verschiedene Göttinnen an. Ich glaube, das, was die Literatur schon seit Jahrhunderten leistet, ist, ein besonderes Denkmodell zu entwerfen, uns zu lehren, Menschen zu sein, uns aber auch zu unterhalten und Freude in unser Leben zu bringen. Also: nichts Neues.
Vielen Dank für das Interview, liebe Volha.
Volha Hapeyeva, geboren in Minsk (Belarus), ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen, sie wurden in den USA, Österreich, Deutschland, Polen, Georgien, Litauen und anderen Ländern veröffentlicht. Auf Deutsch erschienen der Lyrikband Mutantengarten (Edition Thanhäuser, 2020) und der Roman Camel-Travel (Droschl Verlag, 2021). In Zusammenarbeit mit Künstler*innen der elektronischen Musik veranstaltet sie audiovisuelle Performances. 2019/2020 war Volha Hapeyeva Stadtschreiberin von Graz. 2021/2022 ist sie Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschland.
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.