Welche Geister verfolgen eine Familie? In ihrem zweiten Roman Dschinns wendet sich Fatma Aydemir nach der Wut nun der Familiengeschichte von Arbeitsmigrant*innen zu, die zahlreiche Konflikte der Gegenwart in sich vereint.
Nach vierzig Jahren endlosem Schuften endlich in die Freiheit. Den Ruhestand in einer eigenen Wohnung verbringen. Einer Wohnung, die endlich groß genug ist, die nicht überall auseinanderfällt, die schick ist und sogar ein Gefühl von Luxus versprüht. In Istanbul, der Bosporus-Metropole, im Heimatland.
Hüseyins Traum wird endlich wahr. Die Entbehrungen, die er dafür in Kauf genommen hat, sind auch für ihn kaum zu fassen. Er hat in der türkischen Armee gegen seine eigenen Leute – er ist Kurde – gekämpft, ist nach Deutschland ausgewandert, hat seine Familie nach und nach mitgenommen, hat dort so viel gearbeitet, wie er nur konnte. Und sich dabei erst von seiner Familie und dann auch von sich selbst so weit entfremdet, dass er kaum noch weiß, wer er ist, als er endlich in seiner Traumwohnung sitzt.
Hüseyin … Weißt du, wer du bist, Hüseyin, wenn du die glänzenden Konturen deines Gesichts im Glas der Balkontür erkennst? Wenn du die Tür öffnest, auf den Balkon trittst und dir warme Luft übers Gesicht streicht und de untergehende Sonne zwischen den Dächern der Wohnblocks von Zeytinburnu leuchtet wie eine gigantische Apfelsine?
Es wird ihm nicht viel Zeit bleiben, über die Fragen der Erzählstimme, mit denen Dschinns beginnt, nachzudenken. Denn gleich zu Beginn des Romans stirbt Hüseyin an einem Herzinfarkt, der eine Kette von Bewegungen in Gang setzt. Die ganze Familie Yılmaz macht sich auf nach Istanbul, um den Ehemann, Vater und Großvater zu beerdigen – was im Islam innerhalb von 48 Stunden passieren muss. Wenig Zeit also für seine Frau Emine, die Töchter Sevda und Peri und die Söhne Hakan und Ümit, nach Istanbul zu reisen.
Dschinns widmet allen Angehörigen der Familie Yılmaz ein Kapitel, in dem sie in personaler Erzählweise und mit vielen Rückblenden versehen ihre eigene Geschichte erzählen. Die Kapitel von Hüseyin und Emine, also der Elterngeneration, rahmen den Roman ein. Nur sie sind in der zweiten Person geschrieben und sprechen die beiden direkt an. Ein klein wenig wie ein Geist – oder eben Dschinn. Aus dem eigenen Inneren stellt die Stimme ihnen quälende Fragen, die sie selbst ihr Leben lang verdrängt haben, und deren Grundprobleme sie davon abgehalten haben, glücklich zu sein.
Wenig überraschend geht es in den Kapiteln der Kinder um deren Entfremdung von den Eltern, die sich mit ihren ganz eigenen Konflikten als Kinder aus der Türkei eingewanderter Eltern in Deutschland verknüpfen. So bricht Sevda den Kontakt zu den Eltern ab, als sie sich scheiden lässt. So zieht Ümit sich immer weiter in sich selbst zurück, weil er schwul ist und in seinem direkten Umfeld nur auf Ablehnung stößt. So ist Peri irritiert darüber, dass die Eltern ihre kurdische Herkunft verschweigen und ihre Mutter nicht emanzipierter lebt. So ist Hakan von allem irritiert, da er einfach nur versucht, sein verkorkstes Leben auf die Reihe zu kriegen, sich aber immer tiefer in Probleme verstrickt, da er durch jahrelang unterdrückte Emotionen an Wutstörungen leidet.
Dschinns nimmt sich also ganz schön viel vor. Für einen Roman mit so facettenreichen Themen, ja geradezu einem klassischen Generationenroman einer Einwandererfamilie aus der Türkei, mit allen möglichen Implikationen, ist er doch recht schmal geraten. So muss sich der Roman vorwerfen lassen, dass die meisten Themen, die er anreißt, nicht wirklich verhandelt werden. Und er tut sich auch etwas schwer damit, alle Themen organisch aufzunehmen. Spätestens bei der Geschichte um den verschollenen Bruder Ciwan, der trans ist und deshalb verstoßen wurde, wird es doch etwas viel.
Dass Dschinns trotzdem überzeugen kann, liegt für mich vor allem am Einfühlungsvermögen, mit dem die Personen im Roman gezeichnet werden. Wie schon in Ellbogen ist es gerade die berührende wie überzeugende Sprache, mit der Fatma Aydemir ihre Figuren beschreibt, die fesselt und in der Wärme auch die zu stark wirkende Konstruktion und Überladung des Romankonzepts vergessen lässt. Auch wenn vieles angerissen bleibt, werden die Figuren in ihrer Skizzenartigkeit immer noch plastisch genug, um Konflikte zu beschreiben, die viele Familien mit Migrationsgeschichte in Deutschland durchziehen.
Fatma Aydemirs zweiter Roman Dschinns ist ein Generationenroman, der die Wunde der Migration, an der vor allem die Eltern leiden, zu einem vererbten Trauma einer Familie ausweitet. Er zeigt verkürzt, aber pointiert, welche Konflikte Familien mit Migrationsgeschichte aus der Türkei in Deutschland durchmachen, und spitzt diese auf aktuelle Diskurse wie Feminismus, Heteronormativität, Rassismus, Unterdrückung von Kurden und andere zu. Die Stärke dieses Romans liegt in der Zuneigung, die den Figuren durchgehend entgegengebracht wird, ohne sie dabei zu beschönigen.
Fatma Aydemir
Dschinns
Hanser
368 Seiten | 24 Euro
Erschienen im Februar 2022